Rundbrief »KDV im Krieg« - September 2016

Rundbrief »KDV im Krieg« - September 2016

Algerien: Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung

von Maike Rolf

Wehrpflicht & Militärdienst

Im August 2014 wurden Gesetzesänderungen im Bezug auf den Grundwehrdienst beschlossen (Gesetz Nr. 14-06, 13 Chaoual 1435 mit Änderung vom 9. August 2014). Die Dauer der Wehrpflicht wurde auf 12 Monate verkürzt. Davon sind 6 Monate Grundausbildung und 6 Monate Dienst in den Bodentruppen oder im Zivilschutz. Bis 2002 betrug die Wehrpflicht 24 Monate, von 2002 bis 2014 18 Monate.1

Alle Bürger müssen sich im Alter von 17 Jahren in den Monaten Januar bis September nach schriftlicher Aufforderung selbstständig oder durch einen Bevollmächtigten zur Musterung anmelden. Bei Unterlassung werden sie von Amts wegen tauglich erklärt und verlieren ihren Anspruch auf Aufschub oder Befreiung vom Militärdienst.2

Wehrdienstleistende erhalten einen monatlichen Sold von 3.000 Dinar (= 24,37 € Stand 22.08.2016). Das entspricht einer Kaufkraft von ca. 200 € in Deutschland.3

Es gibt eine Reintegrationsgarantie in die vorherige professionelle Tätigkeit innerhalb von maximal 6 Monaten nach Ende des Militärdienstes. Der Militärdienst zählt gleichwertig für die Rentenkasse, die Arbeitserfahrung und Aufstiegschancen in der zivilen Tätigkeit.4

Neben den Wehrdienstleistenden gibt es „militaire de carrière“ und „servant en vertu d‘un contrat“, also Berufs- und Zeitsoldaten. Diejenigen, die ihren Vertrag nicht erneuern wollen, müssen ein Jahr vor Ende ihrer Dienstzeit kündigen. Dabei riskieren sie Diffamierungen und den Verdacht der Kollaboration mit islamistischen Terroristen. Mit 3.300 km Grenze und einer steigenden Zahl von terroristischen Aktivitäten, vornehmlich aus dem Norden Malis, Libyen und an der algerisch-tunesischen Grenze sei das algerische Militär bereits stark ausgelastet, so die Al Huffington Post.5

Nach Beendigung der Dienstzeit wird man in die Reserve überführt, welche in drei Stufen eingeteilt ist. Zunächst kommt man in die „Verfügbarkeit“ (disponibilité), während der man ständig abrufbar sein muss. Darauf folgen die erste und schließlich die zweite Reserve mit abgestufter Verfügbarkeitsverpflichtung.6 Die Disponibilité dauert 5 Jahre, die erste und die zweite Reserve jeweils 10 Jahre.7

Frauen sind nicht wehrpflichtig und dürfen nicht in die algerische Armee eintreten. Es gibt Bestrebungen von Frauen, im Rahmen der Gleichberechtigung die Armee auch für Bürgerinnen zu öffnen.8

Im Jahr 2014 hatte die Armee eine Stärke von 317.200 Personen (2,57% der Bevölkerung). Von 1994 (126.000 Mann, 1,7%) bis 1999 (303.200, 3,47%) ist die Zahl stark gestiegen. Seitdem sind die absoluten Zahlen ein wenig angestiegen und wieder abgesunken, während die prozentualen Zahlen aufgrund des Bevölkerungswachstums und der begrenzten Kapazitäten innerhalb des Militärs gesunken sind. 2014 lagen die Militärausgaben bei 5,56% des BIP, und waren damit auf dem höchsten Stand. In den letzten 17 Jahren, bis 2014, ist dieser Posten um 18% gestiegen.9

2007 hat die algerische Regierung einen Gesetzesentwurf eingebracht, der jedoch nicht verabschiedet wurde. Darin sollte die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft und zu Zwecken der Erfassung durch einen obligatorischen Informationstag nach dem Vorbild Frankreichs für die Landesverteidigung ersetzt werden.10

Zurückstellungen & Ausnahmeregelungen

Im Rahmen der medizinischen Voruntersuchung kann ein Antrag auf Befreiung, Verschiebung oder Zurückstellung für den Zeitraum der Ausbildung oder des Studiums gestellt werden.11

Ein Antrag auf Verschiebung der Einberufung (report d‘incorporation) ist im Falle einer zeitlich begrenzten, nachweisbaren Verhinderung möglich, oder wenn man einen Bruder hat, der seinen Militärdienst bereits ableistet. Die Zurückstellung (sursis) der Dienstpflicht zu Ausbildungs- und Studienzwecken wird auf Antrag bewilligt und kann bis zum entsprechenden Abschluss verlängert werden. Studenten, die bereits einen Abschluss haben, können ihren Militärdienst nicht zurückstellen lassen, wenn sie in einem Studiengang mit gleichwertigem oder niedrigerem Niveau eingeschrieben sind.12

Auch nach Eintritt in die Armee kann ein Befreiungsantrag jedem Bürger bewilligt werden, der nachweislich ein sozial vordringlicher Fall („cas social digne d‘intérêt“) ist. Die Entscheidung darüber wird von der jeweiligen Regionalkommission für Militärdienstbefreiung getroffen. Die Kommission wird entsprechend eines Erlasses des Verteidigungsministers zusammengesetzt. Einspruch gegen die Entscheidung der Kommission können Bürger bei der Zentralstelle für Militärdienst im Verteidigungsministerium erheben.13 Es handelt sich um einen „cas social digne d‘intérêt“, wenn die Person der einzige Ernährer für die aufsteigende Familie, also Eltern und Großeltern, für ein Familienmitglied mit Behinderung oder für ein Kleinkind ist. Ebenfallls als „cas social digne d‘intérêt“ gelten Bürger, die älter als 27 Jahre sind und in einem Arbeitsverhältnis stehen. Und auch wenn der Vater als Märtyrer im Unabhängigkeitskrieg gilt, kann der Sohn befreit werden.14

Bürger, die eine Funktion in einer staatlichen Institution übernehmen sollen oder sich zur Wahl aufstellen lassen, werden vom Militärdienst befreit.15

Bei Krankheit und Inhaftierung werden die betroffenen Personen bis zur Änderung ihres Status‘ vom Militärdienst freigestellt. Unheilbar und schwer Kranke müssen nicht zur Musterung erscheinen, sondern können zwei Atteste über ihre Erkrankung einreichen, um ausgemustert zu werden, davon muss mindestens eine von einer öffentlichen Einrichtung ausgestellt worden sein.16 Bei der Voruntersuchung werden u.a. Bürger ausgemustert, die kleiner als 1,60 m sind oder einen Body-Mass-Index über 30 haben.17

Eine Befreiung erfolgt auch, wenn die Person „non incorporable“ ist, also nicht eingliederbar18. Diese Formulierung ist nicht eindeutig. Im Zusammenhang mit Berichten in Zeitungsartikeln wird vermutet, dass es sich hierbei um die Kapazitäten der Armee handelt; Sie käme also beispielsweise zur Anwendung, wenn die Kasernen voll sind [die algerische Bevölkerung wächst um ca. 2% pro Jahr].

Kriegsdienstverweigerung & Ersatzdienst

Es gibt keine legale Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung und keinen Ersatzdienst. Verweigerer werden als Deserteure angesehen. Die Zeit, die Armeeangehörige (Berufs- und Zeitsoldaten sowie Militärdienstleistende) während ihrer Dienstzeit im Gefängnis saßen, zählt nicht als Dienstzeit und muss im Anschluss nachgeholt werden. Diejenigen, die länger als 30 Tage im Armeegefängnis saßen, müssen nach dem Ende ihrer Dienstzeit zusätzlich noch einmal für einen Zeitraum, der der Hälfte der insgesamt inhaftierten Zeit entspricht, in der Armee bleiben. Somit drohen Kriegsdienstverweigerern zwei Jahre Gefängnis, ein Jahr Militärdienst und ein Jahr Verlängerung der Dienstzeit aufgrund der Gefängniszeit. Bei erneuter Verweigerung nach der Haftstrafe droht ein Teufelskreis.19

Die Regelungen für Fahnenflüchtige wurden verschärft. Um einer Arbeit nachgehen zu können, muss jeder männliche Bürger ab einem Alter von 25 Jahren seinen ordnungsgemäßen Militärdienststatus mithilfe eines Militärausweises nachweisen können, die er nach Absolvierung des Dienstes erhält. Vor 2014 war das nur bei Einstellungen im öffentlichen Sektor verpflichtend.20

Laut Forumsbeiträgen und persönlichen Berichten liegen Gesetz und Realität hier sehr weit auseinander. Personen, die sich nicht einschreiben, werden häufig nicht verfolgt bzw. eingezogen und können trotzdem den für die Arbeitssuche notwendigen Militärausweis vorweisen (Durch Korruption, Fälschungen oder den seit 2011 auf unbestimmte Zeit geltenden „Gnadenerlass“ des Präsidenten für über 30-Jährige [s.u.]). Andere hingegen, die sich eingeschrieben haben, den Dienst aufgrund der Ausbildung verschoben und sich nach Abschluss wieder gemeldet haben, warten teilweise seit Jahren auf ihren Dienstbeginn, und damit auch auf ihren Militärausweis, ohne den sie keine Arbeit finden können. Auch die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt soll in der Realität problematisch sein, vor allem für Berufsanfänger, die nach Ende ihrer Ausbildung sofort den Militärdienst begonnen haben.21

Im März 2011, während der Wahlkampagne zur Präsidentschaft, hat der Präsident eine Amnestie für alle Wehrpflichtigen erlassen, die über 30 Jahre alt waren und ihren Militärdienst nicht abgeleistet hatten. Bis Ende 2014 profitierten 99.767 Bürger von diesem Erlass und erhielten einen Militärausweis, davon 2.013 im Ausland Lebende. Zusätzlich wurde die Grenzpolizei bereits vor einigen Jahren instruiert, den Militärausweis bei der Ausreise von jungen Männern nicht mehr einzufordern. Dieses Prozedere scheint bereits seit über einem Jahrzehnt üblich zu sein, so dass viele junge Männer keine Motivation haben, ihren Dienst abzuleisten.22

Fußnoten

1 Artikel 5, Journal Officiel de la République Algérienne n° 48. 10. August 2014, http://www.joradp.dz/FTP/jo-francais/2014/F2014048.pdf

2 Artikel 19, ebd.

3 Le service et officiellement de 12 mois en Algérie. 10.07.2014, http://www.algerie-focus.com/2014/07/lanp-adopte-a-la-majorite-le-projet-de-loi-sur-le-service-militaire/

4 Artikel 68, Journal Officiel de la République Algérienne n° 48. 10. August 2014, http://www.joradp.dz/FTP/jo-francais/2014/F2014048.pdf

5 En Algérie, la durée du service national baisse mais devient plus aévère pour les „ insoumis „. 10.09.2014, http://www.huffpostmaghreb.com/2014/09/10/service-national-12-mois_n_5797560.html

6 Artikel 3-6, Journal Officiel de la République Algérienne. 30.03.1977, http://www.dgfp.gov.dz/texte/02.pdf

7 L‘opération de régularisation dans le cadre des mesures présidentielles. http://www.elmouwatin.dz/IMG/article_PDF/article_a5789.pdf (zul. abgerufen 26.08.2016)

8 Femmes dans le „sanctuaire des hommes“. 04.11.2015, http://carnegie-mec.org/2015/11/04/fr-pub-62305

9 Perspective monde, http://perspective.usherbrooke.ca/bilan/tend/DZA/fr/MS.MIL.XPND.GD.ZS.html (zul. aufgerufen am 25.08.2016)

10 Algérie. https://fr.wikipedia.org/wiki/Conscription#Alg.C3.A9rie (zul. aufgerufen 26.08.2016)

11 Artikel 22, Journal Officiel de la République Algérienne n° 48. 10. August 2014, http://www.joradp.dz/FTP/jo-francais/2014/F2014048.pdf

12 Artikel 27-29, ebd.

13 Artikel 24-26, ebd.

14 Réponses aux demandes d‘information. 05.10.2010, http://irb-cisr.gc.ca/Fra/ResRec/RirRdi/Pages/index.aspx?doc=453174

15 Artikel 8 und 60, Journal Officiel de la République Algérienne n° 48. 10. August 2014, http://www.joradp.dz/FTP/jo-francais/2014/F2014048.pdf

16 Artikel 17-18, ebd.

17 Service militaire. https://fr.wikipedia.org/wiki/Conscription#Alg.C3.A9rie (zul. aufgerufen am 25.08.2016)

18 Artikel 61, Journal Officiel de la République Algérienne n° 48. 10. August 2014, http://www.joradp.dz/FTP/jo-francais/2014/F2014048.pdf

19 Artikel 52- 53, ebd.

20 Artikel 7, 35, 56, ebd.

21 Comment échapper au service militaire en Algérie ? http://www.algerie-dz.com/forums/archive/index.php/t-34870.html (zul. aufgerufen 26.08.2016)

22 Service national: poursuite de la régularisation. 17.07.2016, http://www.aps.dz/algerie/44692-service-national-poursuite-de-la-r%C3%A9gularisation-des-citoyens-%C3%A2g%C3%A9s-de-30-ans-et-plus-au-31-d%C3%A9cembre-2014-mdn

Maike Rolf: Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung in Algerien. 5. September 2016. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2016

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