Türkei: Kriegsdienstverweigerer wurde in die Zelle “Sibirien” verlegt und ist im Hungerstreik

Inan Süver: “Helft mir!”

von Zeynep Kuray

(27.10.2010) Istanbul – Kriegsdienstverweigerer Inan Süver hat am 22. Oktober 2010 im Militärgefängnis Buca einen Hungerstreik begonnen. Er wurde auf Befehl des Leiters des Militärgefängnisses mit den Worten “Werft diesen Landesverräter in die 17” in eine Zelle gesperrt, die unter dem Namen Sibirien bekannt ist. Das schilderte Inan Süver in einem Brief an seine Familie. Er erwähnt in dem Schreiben, dass es in der Zelle Ratten gibt und er kein Wasser, Zucker und Zigaretten erhält. Zudem schreibt er, dass es ihm psychisch schlecht geht.

Inan Süver hat dem türkischen Staat, der immer wieder den Friedenswillen der Kurden mit Militäroperationen beantwortet, mitgeteilt, dass er sich entschieden hat, Kriegsdienstverweigerer zu werden: “Ich werde kein Blut meiner Geschwister vergießen. Ich werde mich nicht an dem von Euch betriebenen dreckigen Krieg beteiligen”. Er floh aus dem Militärdienst.

Nachdem Süver seine Kriegsdienstverweigerung öffentlich erklärt hatte, wurde er am 5. August 2010 bei einer Razzia in seinem Haus festgenommen. Er wurde wegen seiner Entscheidung mehrmals in Militärlagern und –gefängnissen gefoltert. Zunächst war er im Militärgefängnis Kasımpasa in Istanbul, bevor er nach Buca überstellt wurde. Aber die Gewalt, die er beim Militär erfuhr, begleitet ihn weiter.

„Die Gefängniswärter foltern“

Inan Süver begann am 22. Oktober 2010 einen Hungerstreik, um gegen Folter und unmenschliche Behandlung zu protestieren. Er schreibt in seinem Brief:

„Man nennt sie 15. Station. Sie besteht aus zehn Zellen, die etwa zwei Meter breit und dreieinhalb Meter lang sind. In der 10. Zelle sitzt Memed, in der 9. ich. Die 7. und 8. Zelle sind leer. Von Memed kann ich nur die Stimme hören. Er studierte an der Technischen Universität Mittlerer Osten in Ankara (Orta Doğu Teknik Üniversitesi - ODTÜ) Tourismus. Ich weiß nicht, warum er hier ist. Er schreit andauernd und wirft sich hin und her. Ich glaube, er ist psychisch gestört. Er zerreißt seine Kleider und die Decken, die man ihm gegeben hat.

Gestern hat er mich um vier Uhr morgens geweckt. Er hatte die ganze Nacht geschrien. Manchmal singt er komische Lieder. Dann wieder klagt er wegen der Kälte. Oder er stöhnt, dass ihm seine Hämorrhoiden sehr weh tun. Memed scheißt überall hin und manchmal ist mir wegen des Geruchs sehr übel. Aber es tut mir sehr leid, wenn ich höre, wie ihn die Wärter grausam schlagen. Es tut mir einfach leid. Ab und zu unterhalte ich mich mit Memed. Ich sage z.B. Ankara, er antwortet „mein Arsch ist schwarz“ (das reimt sich auf Türkisch, d.Ü.). Solche Gespräche halt. Einige der Gefängniswärter sind wie Tiere auf zwei Beinen. Nein, man sollte den Tieren nicht unrecht tun. Sie sind wirklich sehr friedliche Wesen im Vergleich zu diesen Ungeheuern!

Mich behandeln sie nicht so wie Memed. Eigentlich sprechen sie gar nicht mit mir, schauen mir noch nicht einmal ins Gesicht. In der ersten Nacht gab man mir weder eine Decke, noch Kissen und Bettbezug, nur eine blutbefleckte Matratze. Ich zog mir alle Kleider an, die mir meine Frau gebracht hatte, auch die neuen. Alle zog ich in dieser Nacht wegen der Kälte an und musste mich dann auf die blutbefleckte Matratze legen.

Ich erhielt zunächst keine Zigaretten und kein Wasser. Wasser musste ich mit den Händen aus der Wasserleitung trinken. Erst am nächsten Tag bekam ich Wasser und Zigaretten.

Heute morgen rief mich der Leiter des Gefängnisses zu sich. Als ich zu ihm kam, schrie er mich an, bevor ich irgend etwas sagen konnte: ‚Du bist ein Landesverräter, werft diesen Landesverräter in die 17‘.

Hier ist es schlimmer. Es gibt Ratten so groß wie Katzen, die haben nicht mal Angst. Ich habe Angst vor Ratten. Die Zelle, in der ich jetzt bin, hat Gitter mit Eisenstäben. Ich habe Angst, im Schlaf von Ratten überfallen zu werden. Es gibt wieder einmal kein Wasser, kein Zucker und keine Zigaretten. Ich habe bemerkt, dass sie heute morgen all die Briefe, die ich in den letzten Tagen geschrieben habe, einfach aus meiner Tasche genommen haben. Diesen hier schreibe ich so schnell wie möglich.

Es ist, als würde mein Gehirn aufhören, zu funktionieren. Ich kann keine zwei Zeilen mehr schreiben. Ich kann beim Sprechen keinen Satz beenden. Außerdem ist es hier sehr kalt. Ehrlich gesagt: Die Situation hier strengt mich sehr an. Irgendjemand muss mich hier herausholen!!

Nun wurde ich in eine andere Zelle verlegt. Jetzt bin ich in der oberen Etage und schreibe weiter. Hier ist es etwas besser, aber die Matratze stinkt furchtbar. Übrigens, während der Verlegung ist die Hälfte woanders geblieben. Die Fenster im Gang sind kaputt. Die Zelle, in der ich bin, hat Gitter. Auch hier kann es Ratten geben, auch wenn ich im Moment keine sehe. Bestimmt sind sie hier. Diese verfluchten Viecher klettern überall hin. Die Zellen hier sind alle leer, ich bin also vollkommen allein.

Diesen Brief schreibe ich an alle, die fragen, warum ich einen Hungerstreik begonnen habe. Helft mir!“

Zeynep Kuray, Fırat News Agency (ANF): Vicdani retçi Süver ’Sibirya hücresine’ atıldı. 27.10.2010. Übersetzung: Mehmet Ali Avci. www.firatnews.com/index.php?rupel=nuce&nuceID=35213. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2010

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