Türkei: Die „Freikaufsregelung“ – Ein Milliardengeschäft

von Gürsel Yıldırım und Julian Irlenkäuser

Mit den aktuellen Protesten in der Türkei, die vom Gezi-Park in Istanbul auf das ganze Land ausstrahlten, verschafft sich erstmals eine breite Gruppe von Menschen Gehör, die sich bislang eher im Hintergrund gehalten hat und als unpolitisch galt. Damit wurde ein politisches Klima geschaffen, in dem auch die Marginalisierten der türkischen Gesellschaft die Chance haben, Gehör zu finden, u.a. die Kriegsdienstverweigerer. Nach der Räumung des Gezi-Parks finden regelmäßige Diskussionsforen in den zahlreichen Parks vor allem in Istanbul und Ankara statt, in dem auch antimilitaristische Aktivisten das Wort ergreifen. Vielleicht gehören auch einige der Aktivisten der Gezi-Park-Bewegung zu der gesellschaftlichen Gruppe, die zuvor eher ganz privat protestierte, indem sie sich z.B. der Ableistung des Militärdienstes entzogen: Geschätzt wird die Zahl der Fahnenflüchtigen auf 750.000, die gezwungen sind, wie Flüchtlinge im eigenen Land zu leben. Ein weiteres Protestpotential liegt allerdings noch brach: Seit Jahrzenten verdient die Türkei mit im Ausland lebenden männlichen Staatsbürgern jährlich Millionen von Euro, indem sie diese vor die Wahl stellt: entweder zahlen oder 15 Monate Militärdienst. Die Erpressung bleibt von Politik und Medien in Deutschland weitgehend unbeachtet. Und das, obwohl sie gerade im Zusammenhang mit der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft eine wichtige Rolle spielt.

Dass Armeen nicht allein „klassischen“ militärischen Zwecken im Sinne von Angriff und Verteidigung dienen, ist hinlänglich bekannt. Neben der Logik der nationalistischen und militaristischen Ideologisierung der Massen folgen sie vor allem der Logik des großen Geldes. Und das in vielfältiger Art und Weise. Wer an den Zusammenhang von Militär und Kapital denkt, denkt dabei wohl zunächst an Schlagwörter wie „Rohstoffzugang“ oder „Rüstungsgüterproduktion“. Schließlich ist gerade der zweite Punkt in den vergangenen Wochen und Monaten auch hierzulande immer wieder im Gespräch gewesen.

Es gibt aber auch andere Wege, wie sich Staaten durch Armeen, seien es ihre eigenen oder die der andern, etwas dazuverdienen können. Eine ebenso kuriose wie gleichermaßen lukrative Regelung hat hier die Türkei ersonnen: Wer den für männliche Staatsbürger obligatorischen Militärdienst von 15 Monaten ablehnt und mindestens drei Jahre im Ausland gelebt hat, der darf sich gegen eine Gebühr von 6.000 € „freikaufen“, sprich vom Militärdienst freistellen lassen. Die Antwort der türkischen Regierung auf eine parlamentarische Anfrage hat zum Anfang des Jahres dazu nun erstmals konkrete Zahlen geliefert. Demnach hat die Türkei in den Jahren 1995 bis 2012 über 2,7 Milliarden TL (Türkische Lira - 1,2 Milliarden €) an Devisen durch Zahlungen im Ausland lebender Wehrpflichtiger eingenommen. Aber der Reihe nach.

Wehrpflicht in der Türkei

In der Türkei herrscht für alle Männer ab dem 20. Lebensjahr Wehrpflicht, eine Alternative dazu gibt es nicht. Wie die Europäische Kommission in ihrem letzten „Turkey Progress Report“ von 2012 kritisch anmerkt, ist „die Türkei das einzige Land des Europarats, welches das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht anerkennt“.1 Auch eine Altersgrenze für eine mögliche Einberufung existiert nicht. So wurde zum Beispiel im Jahre 2011 ein 80-jähriger fahnenflüchtiger Rentner in einem Altersheim bei Antalya vom türkischen Militär aufgespürt. Der fahnenflüchtige Ali Celiker verließ die Militärkaserne im Jahre 1953, um von seiner verstorbenen Mutter Abschied zu nehmen. Danach kehrte er nie wieder dorthin zurück, da er Sanktionen seines Vorgesetzten fürchtete, der ihm den Freigang zuvor nicht genehmigt hatte. Die Quittung des türkischen Militärs erhielt der als „Opa Ali“ bekannt gewordene Herr Celiker knapp 60 Jahre später: Die Polizei führte ihn ab und begleitete ihn in die Zentralstelle der Militärkommandantur in Antalya. Dort musste Opa Ali eine Nacht verbringen. Am nächsten Tag wurde er für die Musterung in ein Militärkrankenhaus in einem anderen Bezirk überstellt und musste letztlich einen symbolischen Tag Wehrdienst ableisten.2 In der Türkei wird Kindern bereits in der Grundschule beigebracht, dass „jeder Türke als Soldat geboren ist“, wie ein bekanntes Sprichwort sagt. Für die Sozialisation der Jungen gilt der Militärdienst als „Schule der Männlichkeit“, als wesentlicher Initiationsritus auf ihrem Weg zur Mannwerdung. Sprüche wie „Wer seinen Wehrdienst nicht leistet, ist kein richtiger Mann“ gelten als Leitgedanke für einen großen Teil der Gesellschaft, welcher eine Ablehnung der Wehrpflicht nach wie vor als „Vaterlandsverrat“ betrachtet. Diese Haltung wird vom Generalstab der Türkei als Argument gegen all jene benutzt, die das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einfordern. Wie es der ranghohe Offizier und Wissenschaftler Ersin Kaya formuliert: „Wie alle bereits wissen, stellen Traditionen und Normen nicht juristisch formulierte Quellen dar. Natürlicherweise ist auch unsere Rechtsprechung von unserer Kultur beeinflusst. Das nach europäischer Kultur als normal geltende Recht auf Kriegsdienstverweigerung steht im Widerspruch zu unserem Kulturverständnis und kann deshalb nicht Gegenstand einer Diskussion sein.“ Als Beispiel dieses Kulturverständnisses nennt Herr Kaya unter anderem folgende Einstellungen, die - laut ihm - innerhalb der türkischen Gesellschaft mehrheitsfähig zu sein scheinen: „Wer seinen Militärdienst nicht hinter sich hat, verdient keine Frau“ oder ihm werde „die Muttermilch nicht gegönnt“, wenn er seinen Militärdienst nicht absolviert.3

Mag auch für große Teile der türkischen Gesellschaft der Militärdienst als Höhepunkt der „Mannwerdung“ angesehen werden, so formiert sich doch in den letzten Jahren zunehmender Widerstand gegen diese hegemoniale Ideologie, die Militarismus und Männlichkeit eng miteinander verknüpft. Trotz des breiten gesellschaftlichen Drucks und institutionalisierter Zwangsmechanismen entziehen sich hunderttausende Wehrpflichtige in der Türkei der Kontrolle des Militärsystems. Geschätzte 750.000 Fahnenflüchtige leben quasi wie Flüchtlinge im eigenen Land ohne gültige Papiere, oder haben sich ins Ausland abgesetzt, um sich so dem Zugriff des Militärs zu entziehen. Und in zunehmender Zahl bieten diejenigen, die den Zwangsdienst kategorisch aus Gewissensgründen ablehnen, den Militärs auch offen die Stirn. Ihren Ursprung Anfang der 1990er Jahre in Izmir nehmend, hat sich im Laufe der letzten Jahre eine allmählich immer größer werdende Kriegsdienstverweigererbewegung herausgebildet, welche alles daran setzt, den Status quo zu verändern. Zum Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung, dem 15. Mai 2013, haben sich die Aktiven nun im Verein für Kriegsdienstverweigerung (VR-DER) zusammengeschlossen und ihre Ziele formuliert: „Wir werden uns einsetzen für ein Ende der Strafverfolgung von Hunderttausenden ‚Wehrflüchtigen‘ und ‚Deserteuren‘, gegen als Militärdrill und Disziplin verkleidete Folter in der Armee und gegen die fragwürdigen Todesfälle von Rekruten, die als Selbstmorde, Unfälle oder Märtyrertum dargestellt werden.“

Dövizli Askerlik - „Militärdienst mit Devisenzahlung“

Abgesehen von der Ausmusterung aufgrund von physischer oder psychischer Untauglichkeit bietet die derzeitige Gesetzeslage in der Türkei nur eine legale Möglichkeit die Wehrpflicht zu umgehen: die sogenannte Freikaufsregelung. Diese heißt wortwörtlich übersetzt „Militärdienst mit Devisenzahlung“ (Dövizli Askerlik) und besagt: Wer mindestens drei Jahre im Ausland gearbeitet hat und für diese Zeit eine gültige Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis vorweisen kann, erhält die Möglichkeit sich vom Militärdienst freizukaufen.

Die Regelung besteht seit Ende der 1970er Jahre und wurde seitdem mehrmals geändert. Die letzte gesetzliche Änderung erfolgte zum 1. Januar 2012: Bis Ende Dezember 2011 mussten die betroffenen „Auslandstürken“ noch einen Preis von gut 5.100 € zahlen, um sich vom Militärdienst freistellen zu lassen. Wer die Altersgrenze von 38 Jahren überschritt, musste 7.500 € hinlegen. Hinzu kam eine dreiwöchige Grundausbildung in Burdur (Westtürkei). Eine Art „Militärdienst light“ sozusagen. Zum 1. Januar 2012 wurde die militärische „Grundausbildung“ abgeschafft und der Freistellungsbetrag auf 10.000 € beinahe verdoppelt.

Die hohe Summe von 10.000 € löste Kritik der türkischen Communites im Ausland aus. Es brauchte aber etwa 1½ Jahre bis die der Regierungspartei AKP nahe stehenden türkischen Interessensverbände im Ausland einsahen, dass die hohe Summe nicht nur eine große Belastung für die Betroffenen bedeutet, sondern sich auch negativ auf das Prestige von Erdoğan auswirkt. So kam es, dass die Höhe des Freikaufbetrags am 17. Juni 2013 Thema im Rahmen eines Treffens zwischen Ministerpräsident Erdoğan und Vertretern von „Auslandstürken“ aus der ganzen Welt war. Anlässlich einer Sitzung des Beirats für Bürger im Ausland (YVDK) äußerten zahlreiche ausgewählte Vertreter und Vertreterinnen der „Auslandstürken“ (unter anderem aus Australien, Österreich, Belgien, Frankreich, Holland, Deutschland) ihre Bedenken bezüglich der Höhe des Freikaufbetrags. Die zentrale Forderung an Erdoğan lautete: Der aktuelle Betrag von 10.000 € sei ungerecht, da zu hoch, und müsse wieder gesenkt werden. Das Treffen nahm dabei zunehmend skurrile Züge an, als ein Feilschen um die Höhe des Freikaufsbetrages begann, das an Szenen auf einem Istanbuler Basar erinnern ließ. So wies ein Vertreter aus Australien auf die Länge der Flugstrecke (zwischen Australien und der Türkei) und die Kosten des Flugtickets hin und forderte einen entsprechenden Freikaufspreis in Höhe von 3.500 €. Die Vertreter aus Italien und Belgien forderten wiederum 5.000 €, während von holländischer Seite 6.500 € zu hören war und die Kölner zwischen 6.500 – 8.000 € anboten. Wieder andere wiesen auf die unterschiedliche ökonomische Lage der Betroffenen hin, Stichwort Jugendarbeitslosigkeit, oder brachten die hohe Zahl der Ausbürgerungsanträge ins Gespräch, welche sie dem zu hohen Freikaufsbetrag zuschreiben. Interessant bei der Debatte ist aber vor allem, dass allen angereisten Vertreter und Vertreterinnen einzig die Höhe des Betrags Sorgen zu bereiten schien. Eine grundsätzliche Kritik an der Regelung oder gar der Wehrpflicht als solche äußerte niemand.4

In der Folge entschied der Ministerrat der Türkei am 15.07.13, die Summe auf 6.000 € zu reduzieren.5 Für Hilmi Kaya Turan, stellvertretender Vorsitzender der in Berlin ansässigen Türkischen Gemeinde Deutschlands, löst die Reduzierung des Betrags auf 6.000 € das Problem nicht: „Damit wird der erhöhte Betrag wieder rückgängig gemacht. Bis zu einer endgültigen Lösung sollte der Betrag aber höchstens 2.000 € betragen.“6 Die neue Regelung ist am 20. Juli 2013 in Kraft getreten. Der Betrag von 6.000 € muss bis zur Vollendung des 38. Lebensjahres in maximal drei Raten beim zuständigen Konsulat eingezahlt werden. Zusätzlich muss der Nachweis erbracht werden, dass man sich für mindestens 1.095 Tage (3 Jahre) mit gültiger Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis im Ausland aufgehalten hat und dort einer Beschäftigung nachgegangen ist.

Ab der Altersgrenze von 38 Jahren gelten „Auslands­türken“, die der Wehrpflicht noch nicht nachgekommen sind, als fahnenflüchtig. Mit oft dramatischen Folgen für die Betroffenen: Wer dann in die Türkei reist, musst dort mit Strafen rechnen, bis hin zu mehreren Monaten oder sogar Jahren im Gefängnis. Die Höhe der Strafe ist dabei einerseits von der Länge der Fahnenflucht abhängig sowie andererseits davon, ob die entsprechende Person freiwillig bei den zuständigen Autoritäten Meldung gemacht hat oder aber von diesen aufgegriffen wurde. Der einzige Ausweg ist, vor Antritt der Reise als Bittsteller ins türkische Konsulat zu gehen und den Freikaufsbetrag zu zahlen. Wer die Summe für seinen Freikauf nicht zahlen will oder kann, dem bleibt meist nicht viel anderes übrig, als die Türkei zu einem „schwarzen Fleck“ auf der Weltkarte zu erklären. Dies bedeutet allerdings zugleich, dort lebende Freunde und Verwandte, gegebenenfalls auch den eigenen Heimat- oder Geburtsort, nie wieder besuchen zu können, ohne Gefahr zu laufen, festgenommen und inhaftiert zu werden.

Wer also als Mann einen türkischen Pass hat, der wird sich früher oder später gezwungenermaßen mit dem türkischen Militär konfrontiert sehen.

Auch hierzu traf der Ministerrat eine befristete Entscheidung. Einmalig sollte nun bei einer Einreise von als fahnenflüchtig geltenden Wehrpflichtigen in die Türkei darauf verzichtet werden, sie zu verhaften oder sie zu einzuberufen. Dies galt aber nur bis zum 15. Oktober 2013. Wer sich darauf einließ, erhielt eine dreimonatige Frist zur Regelung des Freikaufs. Beim nächsten Mal wird ihm die sofortige Rekrutierung drohen.

Kaum ist die Frist vergangen, wird nun der Druck auf die Fahnenflüchtigen erhöht. 750.000 Wehrflüchtige stehen im Visier der Sicherheitsbehörden. Das AKP-Kabinett kündigte Mitte Oktober zeitgleich eine Verkürzung des Militärdienstes auf 12 Monate, aber auch die verstärkte Suche nach Wehrflüchtigen an, wie die Zeitung Sabah berichtete (...mehr).

Doppelstaater und Optionskinder

All diese Augenwischerei ändert jedoch nichts an Grundproblem. Wer die doppelte Staatsbürgerschaft hat, also einen deutschen und einen türkischen Pass, unterliegt in der Türkei der Wehrpflicht. Dabei wird die Wehrpflicht von türkischen Doppelstaatern, die in Ländern leben, in welchen auch eine Wehrpflicht gilt, meist mittels gegenseitiger Anerkennung geregelt. Wer also zum Beispiel in Österreich lebt und den dortigen Zivildienst leistet, für den entfällt die Wehrpflicht in der Türkei. Das heißt zugleich, dass mit der Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland 2011 nunmehr die Möglichkeit entfällt, sich mittels eines in Deutschland geleisteten Zivildienstes von der Wehrpflicht in der Türkei befreien zu lassen. Was viele hierzulande freudig begrüßt haben, das Ende der Wehrpflicht in Deutschland nach über 50 Jahren, war für all jene Doppelpass-Inhaber, deren „Zweit-Staat“ eine Wehrpflicht kennt, ein eher schmerzhaftes Ereignis. Betroffen sind neben zehntausenden „Auslandstürken“ vor allem Griechen, Finnen, Zyprioten und Russen.

Die betroffenen „Auslandstürken“ werden also vor die Wahl von einer von vier Möglichkeiten gestellt: Entweder erwirken sie eine Entlassung aus der türkischen Staatsbürgerschaft, oder sie sparen bzw. leihen sich 6.000 €, oder sie dienen 15 Monate im türkischen Militär, oder aber sie verzichten ab dem Alter von 38 auf die Einreise in die Türkei.

Nach der Erhöhung der Freistellungsbetrag auf 10.000 € war eine Fluchttendenz der Jugendlichen vor dem türkischen Pass festzustellen. So haben laut Süddeutscher Zeitung in München „von 199 Betroffenen inzwischen 188 eine Entscheidung gefällt. Nur vier von ihnen haben sich bisher gegen den deutschen Pass entschieden. Diese Quote deckt sich in etwa mit den bundesweiten Zahlen.“7 Zu Recht. Ob diese Fluchttendenz der „Optionskinder“ mit dem neuen Freikaufsbetrag von 6.000 € nachlässt, wie die AKP-Regierung sich erhofft, ist ungewiss. Jedenfalls bedeutet auch der neue Freikaufsbetrag besonders für ökonomisch schwache Migranten eine große Belastung. Denn wer möchte einen Pass, der 6.000 € kostet?

Dementsprechend sollte in der weiteren Debatte über die Doppelpass-Frage das Thema der türkischen Wehrpflicht nicht einfach übergangen werden. Denn mal angenommen die deutsche Position diesbezüglich ändert sich insofern, als dass es langfristig (und eigentlich erfreulicherweise) zu einer Zulassung eines deutsch-türkischen Doppelpasses käme, dann würde das alle männlichen deutsch-türkischen Doppelpass-Inhaber zugleich zu Wehrpflichtigen in der Türkei werden lassen. Bisher haben weder jene Politikerinnen und Politiker, die sonst gerne typische „Migantenthemen“ für sich reklamieren, noch die einschlägigen Interessensverbände hier viel von sich reden gemacht. Doch Immerhin: Innerhalb der Türkischen Gemeinde Deutschland scheint sich allmählich etwas zu bewegen. Sie forderte nicht nur die Reduzierung des Kopfgeldes auf 2.000 €, sondern auch eine grundsätzliche Neuregelung der Wehrflicht für Migranten in Deutschland. Damit sollen vor allem junge Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft alternative Möglichkeiten zur Wehrpflicht haben, in dem sie etwa in Form eines Zivildienstes ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren.8

Das Ergebnis der schriftlichen Anfrage

Am 13. Dezember 2012 richtete die militärkritische Abgeordnete der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), Sebahat Tuncel, eine parlamentarische Anfrage an den Verteidigungsminister der Türkei. Sie wollte wissen, „wie hoch die Geldsumme“ im Zusammenhang mit der Freikaufsregelung sei, „die seit 1995 von männlichen türkischen Staatsbürgern im Ausland eingenommen wurde“. Am 9. Januar 2013 beantwortete der Verteidigungsminister die Anfrage mit einer Tabelle, in der die jährlichen Beträge bis auf den Cent genau aufgelistet sind.9 Das Ergebnis lässt aufhorchen: Um der Wehrpflicht zu entgehen, haben türkische Staatsbürger demnach in den Jahren 1995 bis 2012 insgesamt 2.777.239.378,80 TL (ungefähr 1,2 Milliarden €) an den türkischen Staat gezahlt. Die Tendenz ist dabei klar steigend: Flossen 1995 „nur“ gut 60 Millionen TL auf diesem Wege in die türkische Staatskasse, war es im letzten Jahr fast das Dreifache. Auffällig ist dabei, dass die Summen, die über all die Jahre hinweg bis hin zu einem Rekordwert von über 400 Millionen TL im Jahr 2011 kontinuierlich gestiegen waren, damit 2012 erstmals sanken. Die Erklärung dafür ist einfach und deckt sich mit der bereits erwähnten Änderung der Gesetzeslage. Denn, wir erinnern uns, bevor die neue Regelung zum 1. Januar 2012 in Kraft trat, bildeten sich lange Schlangen vor den türkischen Konsulaten. Tausende versuchten sich damals noch zum günstigeren Tarif von 5.100 € freizukaufen. Von den insgesamt 50.000 betroffenen „Auslandstürken“, die Ende Dezember 2011 vor den türkischen Konsulaten in Europa Schlange standen, waren laut der Tageszeitung Hürriyet 26.000 dauerhaft in Deutschland lebende türkische Staatsbürger.

Die Zahlen des Verteidigungsministeriums der Türkei sollten vor allem von denen genauer in Augenschein genommen werden, die einerseits die doppelte Staatsbürgerschaft für „Optionskinder“ fordern und andererseits das Thema Wehrpflicht in der Türkei unerwähnt lassen. Denn solange diese unverändert fortbesteht, bedeutet der türkische Pass für viele der Betroffenen mehr eine Last, denn ein Gewinn. In der Konsequenz wäre es sinnvoll, beide Debatten miteinander zu verknüpfen. Wer also die Forderung nach dem Doppelpass stellt, der sollte sich auch mit den Konsequenzen für die Betroffenen beschäftigen. Diese werden nämlich zusammen mit dem türkischen Pass gleichzeitig zum Opfer der genannten Erpressung. Und dabei macht die „Freikaufsregelung“ keinerlei Unterschied zwischen den ökonomisch etablierten „Mittelschichtstürken“ oder Hartz IV-Empfängern. Betroffene Doppelstaater werden nach wie vor vor die Wahl gestellt: Entweder 15 Monate militärische Indoktrination, 6.000 € in die türkische Staatskasse oder lebenslanger Verzicht auf die geliebte „Heimat“.

Wie die Geschichte weitergehen wird ist derzeit noch offen. Erfreulich ist allerdings, dass sich Bewegung abzeichnet. Eine entscheidende Antriebskraft scheint hier die türkische Kriegsdienstverweigererbewegung in Verbindung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu sein. Vier Niederlagen vor dem Gericht haben Kriegsdienstverweigerer, die für ihre Rechte einstanden und die Türkei vor dem EGMR verklagt haben, dem türkischen Staat seit 2006 beibringen können. Inzwischen hat der Gerichtshof die türkische Regierung explizit dazu aufgefordert, ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu schaffen. Seitdem rumort es in Regierungs- und Armeekreisen und die Einführung eines zivilen Ersatzdienstes erscheint vielen als zunehmend wahrscheinlicher. Die türkische Verfassung lässt diese Option zu, da sie nur sehr allgemein davon spricht, dass „Militärdienst das Recht und die Pflicht eines jeden Türken“ sei, wie dieser aber „geleistet wird oder als geleistet gelten soll, entweder in den Streitkräften oder im öffentlichen Dienst, wird per Gesetz geregelt“. Es bedarf also nur eines entsprechenden Zivildienstgesetzes, um den Vorgaben des EGMR Folge zu leisten. Denkbar wäre eine Regelung ähnlich der in Deutschland: Wer aus Gewissensgründen den Militärdienst ablehnt, erklärt seine Kriegsdienstverweigerung. Wird diese Erklärung als glaubhaft befunden, „darf“ die entsprechende Person Zivil- statt Militärdienst leisten. Ob diese Regelung aber ausreichend sein wird, um den Forderungen der antimilitaristischen Bewegung in der Türkei zu genügen, bleibt anzuzweifeln.

Mit der „frohen Botschaft“ der AKP-Regierung vom 15. Juli 2013 bleibt der „Kopfgeldzwang“ der Türkei gegen seine Staatsbürger im Ausland bestehen. Was die Betroffenen „Auslandstürken“ brauchen ist nicht ein höheres oder niedrigeres Kopfgeld, sondern das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und die Abschaffung des Kopfgeldzwangs für alle türkischen Staatsbürger im In- und Ausland.

Fußnoten

1 http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2012/package/tr_rapport_2012_en.pdf, S. 25.

2 http://video.cnnturk.com/2011/haber/4/1/80-yasindaki-dedeyi-askere-aldilar

3 Kaya, Ersin: „Vicdani Red Uygulamasi ve Türkiye“, in: „Stratejik Arasatirmalar Dergisi, Eylül 2006 („Das Recht auf Totalverweigerung und die Türkei“, in: „Zeitschrift für Strategische Untersuchungen“, September 2006)

4 www.internethaber.com/erdogandan-bedelli-askerlik-pazarligi-548570h.htm

5 www.Connection-eV.org/article-1861

6 www.tgd.de/2013/07/01/turkisch-almanya-turk-toplumu-askerlik-duzenlemesini-yetersiz-buluyor/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=turkisch-almanya-turk-toplumu-askerlik-duzenlemesini-yetersiz-buluyor

7 Süddeutsche Zeitung: Zwischen zwei Staaten. 29. Januar 2013, http://tinyurl.com/cgawbq4

8 www.tgd.de/2013/07/01/turkisch-almanya-turk-toplumu-askerlik-duzenlemesini-yetersiz-buluyor/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=turkisch-almanya-turk-toplumu-askerlik-duzenlemesini-yetersiz-buluyor

9 www2.tbmm.gov.tr/d24/7/7-13453c.pdf

Der Beitrag erschien unter dem Titel „Milliardengeschäft Wehrdienstfreikauf“ in gekürzter Fassung am 27. August 2013 in der Jungen Welt. Aktualisiert am 28. Oktober 2013. Der Beitrag wurde veröffentlicht in der Broschüre "Türkei: Es gibt viele Gründe Nein zu sagen - Männer und Frauen verweigern den Kriegsdienst (Hrsg. Connection e.V.), November 2013. Wir danken für die Förderung durch die Bewegungsstiftung im Rahmen des Projekts "Für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei".

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