Bradley Manning

Bradley Manning

„Es begann alles in den ersten Wochen 2010“

von Chelsea Manning

(27.05.2015) Manchmal ist es schwierig, in all den Ereignissen, die ich in den letzten fünf Jahren erleben musste, einen Sinn zu entdecken. Heute ist es fünf Jahre her, als mir während meines Dienstes im Irak befohlen wurde, die Militärhaft anzutreten. Manchmal fällt es mir schwer zu glauben, wie lange ich schon im Gefängnis bin. In dieser Zeit gab es so viel Auf und Ab, dass es sich oft wie eine körperliche und emotionale Achterbahn anfühlte.

Es begann alles in den ersten Wochen im Jahre 2010, als ich die Entscheidung traf, der Öffentlichkeit ein Archiv von geheimen Dokumenten zu übergeben, die einen zugleich erschreckenden und guten Einblick in die Kriege in Irak und Afghanistan geben. Nachdem ich über Monate meinen Einsatz in Afghanistan 2008 vorbereitete, 2009 in den Irak wechselte und schließlich 2009 und 2010 im Irak war, erkannte ich schnell und vollkommen klar, welche Bedeutung diese Dokumente für die ganze Welt haben.

Ich hatte das Gefühl, dass die „Kriegstagebücher“ zu Irak und Afghanistan, wie sie genannt wurden, entscheidend sindfür das öffentliche Verständnis der beiden miteinander zusammenhängenden Aufstandsbekämpfungen, sowohl bezüglich der Wahrnehmung in Echtzeit, als auch bezüglich des Blickwinkels vor Ort. In den Jahren, bevor diese Dokumente gesammelt wurden, hatte die Öffentlichkeit wahrscheinlich niemals solch umfassende Aufzeichnungen zu dem chaotischen Charakter der modernen Kriegführung. Wenn man zu realisieren beginnt, dass die Koordinaten in diesen Berichten reale Orte sind, dass die Informationen unsere gegenwärtige Geschichte widerspiegeln und dass die Zahlen tatsächlich Menschen und ihr Leben betreffen - mit all ihrer Liebe, Hoffnung, Träume, Hass, Furcht und Alpträume, mit denen wir alle leben - dann kann man sich nicht den Gedanken verwehren, wie wichtig es für uns ist, solche Tragödien zu verstehen und hoffentlich in der Zukunft verhindern zu können.

Einige Monate später, nachdem ich lange Zeit über mindestens einige tausend geheime diplomatische US-Depeschen nachgegrübelt hatte, kam ich zu der Entscheidung, auch diese Dokumente der Öffentlichkeit zu übergeben, die allgemein als Cablegate-Archiv bekannt sind. Nachdem ich so viele dieser Dokumente gelesen hatte, die über eine erschöpfende Zahl von Themen des öffentlichen Interesses ausführlich berichteten - von der Führung des „Krieges gegen den Terror“, über vorsätzliche diplomatische und wirtschaftliche Ausbeutung von Entwicklungsländern - fühlte ich, dass auch diese Dokumente in die Öffentlichkeit gehören.

2010 war ich erheblich weniger erwachsen als ich es jetzt bin und die möglichen Konsequenzen und Ergebnisse meines Handelns erschienen mir vage und sehr unwirklich zu sein. Ganz sicher erwartete ich das Schlimmste, aber ich hatte kein echtes Gefühl dafür, was „das Schlimmste“ sein könnte.

Nachdem mir befohlen wurde, ins Militärgefängnis zu gehen, wurde ich von den beiden freundlichsten Jungs meiner Einheit nach Kuwait begleitet, zunächst mit einem Hubschrauber nach Bagdad und dann mit einem Transportflugzeug. Bevor ich das Gefängnis in Kuwait erreichte, fühlte ich mich nicht als Gefangener. In den nachfolgenden Tagen wurde es zu der Zeit schlimm, als die Öffentlichkeit und die Medien damit begannen, herausfinden zu wollen, was mit mir geschah. Nachdem ich eine Woche lang gemeinsam mit anderen untergebracht war, wurde ich zu etwas überstellt, was einem „Käfig“ in einem großen Zelt gleichkam.

Nach einigen Wochen in diesem Käfig im Zelt - während ich nicht wusste, weswegen ich angeklagt wurde, mit sehr eingeschränktem Kontakt zu meinem Anwalt und ohne jede Ahnung von dem Feuersturm der Medien, der in der Welt um mich herum wirbelte - wurde ich extrem depressiv. Es machte mir Angst, dass ich nicht in einer würdigen Art und Weise behandelt würde, wie ich es erwartet hatte. Ich machte mir auch Sorgen, dass ich für immer in einem heißen Wüstenkäfig würde leben müssen, behandelt als Mann, in einem geheimen Gefängnis vor der Welt versteckt und ohne jemals ein öffentliches Verfahren zu erhalten.

Es half nicht, dass mir einige der Wachen der Navy, die mir Essen brachten, sagten, dass ich zu einem Verhör in das Gefängnis auf einem US-Schlachtkreuzer an der Küste des Horns von Afrika gebracht werden würde oder in das Gefängnislager von Guantánamo auf Kuba. Am Tiefpunkt angelangt dachte ich darüber nach, mich selbst zu kastrieren oder - was eine sinnlose und tragikkomische Überlegung war angesichts dessen, dass es nichts Stabiles gab, an dem man etwas hätte aufhängen können - mit einem zerrissenen Laken Selbstmord zu begehen, indem ich mich mit ihm zu erdrosseln versuchte. Nachdem ich erwischt wurde, kam ich wegen Selbstmordversuchs unter Beobachtung.

Nachdem ich zurück in die USA überstellt worden war, wurde ich in dem inzwischen geschlossenen Militärgefängnis der Marines in Quantico, Virginia, in Einzelhaft gesteckt. Das war die schwierigste Zeit für mich und meinem Gefühl nach auch die längste. Es war mir nicht erlaubt, irgendetwas in der Zelle zu haben, als Dinge, für die ich eine Erlaubnis erhielt, sie unter strenger Aufsicht zu benutzen. Wenn ich damit fertig war, musste ich diese Dinge zurückgeben. Für die Nacht musste ich meine Kleidung abgeben (trotz Empfehlungen verschiedener Psychiater, dass ich nicht selbstmordgefährdet sei) und einen „Selbstmord verhindernden“ Kittel tragen - ein einteiliges, gepolstertes und reißfestes Kleidungsstück.

Nach einem öffentlichen Aufschrei über die Bedingungen meiner Einzelhaft wurde ich endlich in ein Militärgefängnis mit normaler Sicherheitsstufe eingewiesen, wo ich zusammen war mit anderen Inhaftierten. Es war ein Höhepunkt meines Lebens in Haft: Nach fast einem Jahr, in dem ich ständig von Wächtern beobachtet worden bin, die mit drei bis sechs Personen Clipboards in den Händen hielten und alle meine Bewegungen kontrollierten, während ich zugleich Handschellen und Ketten anhatte, war es mir nun wieder möglich, herumzugehen und normale Gespräche mit anderen Menschen zu führen.

Die Regierung drängte auf eine Anklage wegen „Kollaboration mit dem Feind“ - laut US-Verfassung ein Vorwurf des Hochverrats - und verschiedener anderer Anklagen nach dem Spionagegesetz von 1917 und dem Gesetz zu Computerbetrug und -missbrauch. In den zwei Jahren des Verfahrens wurde ich aus erster Hand Zeuge, wie sehr sich die Regierung bemühte, um meine Verurteilung zu erreichen: mit Stapeln von Geld; mit Gallonen von Brennstoff; mit unzähligem bedruckten Papier; und einer ermüdend langen Liste von Angestellten, Anwälten und Experten.

100 Tage lang beobachtete ich die Anwälte, die meinen Fall verfolgten und die mich im Gericht als „Verräter“ und „Staatsfeind“ präsentierten und außerhalb zu freundlichen Menschen wurden, die mich grüßten und Smalltalk betrieben. Es wurde mir klar, dass sie im Grunde ehrbare Menschen waren, die einfach ihre Arbeit taten. Ich bin davon überzeugt, dass sie nicht an die Argumente für den Verrat glaubten, die sie gegen mich vorbrachten, selbst nicht in dem Moment, wenn sie sie aussprachen.

Das Urteil und die am Ende meines Militärgerichtsverfahrens ausgesprochene Haftstrafe war schwer vorherzusehen. Das Team der Verteidigung machte sich ernsthafte Sorgen über die Anklage wegen Kollaboration mit dem Feind und die große Spannweite einer möglichen Haftstrafe, was alles sein konnte zwischen „bereits abgebüßt“ und lebenslanger Haft ohne Möglichkeit der Entlassung. Nachdem der Richter die Haftstrafe von 35 Jahren verkündet hatte, musste ich meine Verteidiger trösten, die nach Jahren harter Arbeit und vielen Mühen erschöpft und niedergeschlagen aussahen. Es war für uns alle ein Tiefpunkt.

Nach Jahren, in denen ich mich wegen des Verfahrens versteckt und zurückgehalten habe, gab ich am 22. August 2013 schließlich meine Absicht bekannt, zu einer Frau zu werden und meinen Namen zu ändern, einen Tag nach dem Urteil. Das war für mich persönlich ein ganz entscheidender Punkt, trotz aller Begleitumstände. Aber das Militär lehnte zunächst meinen Wunsch ab, für die diagnostizierte Geschlechtsdysphorie die medizinisch notwendige Behandlung zu gewähren, womit ich als Frau leben könnte und regelmäßig Östrogene und Androgenblocker erhielte. Wie in der Zeit in Quantico und während des Militärgerichtsverfahrens musste ich nun ein mühsames und zeitintensives Verfahren durchlaufen. Am Ende, es ist nun vier Monate her - aber fast anderthalb Jahre nach meiner Bitte darum - konnte ich die Hormonbehandlung beginnen. Ich kämpfe immer noch um das Recht, mein Haar wachsen zu lassen bis zu der für Frauen im Militär erlaubten Länge, aber die Möglichkeit zu haben, die Umstellung vorzunehmen, wird einer der wichtigsten Punkte meines gesamten Lebens bleiben.

Es kann hart sein, manchmal, in alle den Ereignissen, die ich in den letzten fünf Jahren erleben musste, einen Sinn zu entdecken. Was mir Bestand zu haben scheint, das ist klar für mich, ist die Unterstützung, die ich von meinen Freunden erhielt, von meiner Familie und von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt. Jede Auseinandersetzung, mit der ich konfrontiert war - um die Bedingungen der Einzelhaft, der lange rechtliche Kampf und meine körperliche Umwandlung zu einer Frau, die ich immer schon war - überlebte ich nicht nur, sondern ich konnte auch daran wachsen, dazu lernen, reifen und gedeihen zu einer besseren, selbstbewussteren Person.

 

Fußnote

* bis 2013 Bradley Manning

Chelsea Manning: Chelsea Manning on five years in prison. Guardian, 27. Mai 2015. Übersetzung: rf. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2015

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