Türkei: "Es bewegt sich was"

Interview mit Mehmet Tarhan, Mehmet Bal, Balam Kenter und Sedef Cakmak

Im Anschluss an die Konferenz zur Kriegsdienstverweigerung, die am 27. und 28. Januar 2007 in Istanbul stattfand, sprach Rudi Friedrich mit vier Aktiven aus Istanbul. Der Kriegsdienstverweigerer Mehmet Tarhan war von April 2005 bis März 2006 inhaftiert und ist Anfang des Jahres zu 25 Monaten Haft verurteilt worden. Da er nicht beim Prozess erschien, befindet er sich derzeit nicht im Gefängnis. Der Kriegsdienstverweigerer Mehmet Bal entschied sich nach neuneinhalb Monaten Militärdienst, weitere Befehle zu verweigern; das gegen ihn eröffnete Verfahren wegen Befehlsverweigerung ist noch anhängig. Zwei Frauen, Balam Kenter und Sedef Cakmak, sind im Bündnis zur Kriegsdienstverweigerung in Istanbul aktiv.

Können wir von einer Bewegung zur Kriegsdienstverweigerung in der Türkei sprechen?

Mehmet Bal: Ich habe eher den Eindruck, dass das eine Illusion ist. Klar, wenn jemand inhaftiert worden ist, kamen alle: aus Istanbul, Izmir, Antalya oder Ankara. Aber das ersetzt keine gut organisierte Bewegung. Ein Grund, warum es keine Mobilisierung außerhalb der Inhaftierung von Verweigerern gibt, ist, weil es keine organisierte Struktur, keinen Verein zur Kriegsdienstverweigerung gibt. Ein anderer Grund ist, dass sich die meisten Verweigerer als Anarchisten verstehen. Sie lehnen eben auch eine feste Organisation, wie einen Verein, ab.

Mehmet Tarhan: Ist es eine Bewegung oder nicht? Ich denke, dass das eine offene Frage ist. Aber auf jeden Fall können wir sagen: Es bewegt sich was. Noch ist aber unklar, welche Strategie verfolgt werden soll.

Eine grundlegende Schwierigkeit dafür ist meines Erachtens, dass es keine gesetzliche Definition der Kriegsdienstverweigerung gibt, weder in der Form, dass sie anerkannt wird, noch in der Form, dass sie unter Strafe gestellt ist. Dadurch ist es in der Auseinandersetzung schwierig, eine Strategie zu entwickeln.

Ein anderes Problem ergibt sich daraus, dass die Kriegsdienstverweigerung als Teil des Anarchismus verstanden wird. In der Türkei entstand die Bewegung zur Kriegsdienstverweigerung erst sehr spät - im Vergleich zu westeuropäischen Ländern. Der Kern der Verweigerer bestand aus Anarchisten, die mit der Verweigerung eigentlich eine Totalverweigerung meinten. Das hatte zur Konsequenz, dass es für diese Bewegung niemals Zustimmung von Seiten z.B. marxistischer Gruppen gegeben hat. Die Anarchisten werden in der Türkei in eine Ecke mit den Terroristen gestellt. Die Bewegung der Kriegsdienstverweigerung konnte so nicht populär werden und ist bis jetzt stark marginalisiert.

Ich sehe das Bündnis zur Kriegsdienstverweigerung, das sich vor wenigen Monaten gegründet hat, als eine Möglichkeit an, dies zu ändern. Und es zeigte sich ja schon bei den Aktionen, die es während meiner Haft gab. Ich habe mir die Bilder dazu angeschaut und festgestellt, dass nicht nur AnarchistInnen daran teilgenommen haben. Es gab andere, die kamen, weil ich offen gemacht habe, dass ich schwul bin. Es gab zudem TeilnehmerInnen von anderen Organisationen, z.B. von sozialistischer Seite.

Könnte ein Grund für die jetzige Situation der Kriegsdienstverweigerer sein, dass die türkische Linke zum großen Teil immer noch Sympathien mit bewaffnetem Widerstand hegt?

Mehmet Tarhan: In der Türkei findet seit über 20 Jahren ein Krieg statt. Auch die Linken hatten darunter zu leiden, da einige von ihnen verhaftet und gefoltert wurden. Die Isolationshaft der F-Typ-Gefängnisse ist auch eine Konsequenz daraus. Für sie ist es deshalb sehr schwierig, Gewalt grundsätzlich in Frage zu stellen. Das ist sehr wohl eine Schwierigkeit, um die Ideen der Kriegsdienstverweigerung und der Gewaltfreiheit zu verbreiten.

Wie habt Ihr die Unterstützung in der Haft erlebt?

Mehmet Bal: Als ich entschied, meine Kriegsdienstverweigerung zu erklären, kannte ich keine Gruppe von Anarchisten oder KriegsgegnerInnen. Ich kannte nur den Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke, mit dem ich eine Zeitlang zusammen in einer Zelle inhaftiert war. Ich hatte aber das Gefühl, dass alle, die mich unterstützten, es aus ihrer eigenen Überzeugung heraus taten und nicht, weil sie lediglich einer Gruppe angehörten. Das gab mir großes Vertrauen.

Mehmet Tarhan: Da ich länger inhaftiert war, habe ich viel mehr mitbekommen. Ich hörte von den Aktionen, die international liefen und erhielt Postkarten und Briefe. Wahrscheinlich war es eine der international am Besten organisierten Kampagnen, dank Connection e.V, Payday aus Großbritannien, amnesty international, der War Resisters’ International und vielen anderen Gruppen und Personen.

In der Konferenz wurde auch die Frage thematisiert, ob die Bewegung nur funktioniert, wenn es Opfer gibt. Die Einschätzung, dass die Gruppen vor allem dann aktiv werden, wenn jemand inhaftiert ist, scheint dies zu bestätigen. Wie ist es möglich, das zu ändern?

Sedef Cakmak: Das hängt auch mit einem allgemeinen Verständnis in der türkischen Gesellschaft zusammen. Es gibt keine Idee, eine Bewegung ohne Opfer zu initiieren. Das bedeutet auch, dass sich einige bei uns gar nicht der besonderen Rolle von Kriegsdienstverweigerern bewusst sind, dass sie als Helden oder Opfer angesehen werden. Es wird ganz selbstverständlich als ein Kampf von Einzelnen angesehen. Als ich z.B. zum Bündnis zur Kriegsdienstverweigerung kam, drängten mich die anderen: „Wann wirst Du Deine Kriegsdienstverweigerung erklären?“ Ich antwortete: „Ich denke nicht, dass ich eine Kriegsdienstverweigerin bin.“ Es wurde nicht gesehen, dass die Gruppe nicht nur aus VerweigerInnen bestehen muss, sondern auch Menschen darin aktiv sein können, die die Kriegsdienstverweigerung unterstützen.

Mehmet Tarhan: So lange es nur Kriegsdienstverweigerer sind, die die Verantwortung tragen, ist es nicht möglich, von der Rolle als Helden wegzukommen. Wir sind als kleine Gruppe marginalisiert und müssen das ändern. Mit dem Bündnis zur Kriegsdienstverweigerung haben wir aber zum ersten Mal eine Gruppe, in der auch andere aktiv sind. Ich habe daher die Hoffnung, dass sich an der Situation was ändert, dass wir weitere Gruppen finden können, die ähnliche Forderungen haben, dass die Vorstellung gebrochen werden kann, dass die Kriegsdienstverweigerung nur eine individuelle Aktion ist. So kann die Kriegsdienstverweigerung auf eine soziale Basis gestellt und als grundlegendes Menschenrecht definiert werden.

Welche Themen stehen für das Bündnis für Kriegsdienstverweigerung im Vordergrund und was fordert das Bündnis?

Mehmet Tarhan: Das Bündnis für Kriegsdienstverweigerung hat eine sehr klare Vorstellung davon, was die Kriegsdienstverweigerung ist: die Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes aus ethnischen, religiösen, politischen oder persönlichen Gewissensgründen. In dieser Definition sind auch Militärdienstentzieher und Deserteure eingeschlossen. Das war mir sehr wichtig, da auch sie davon betroffen sind, dass sie einen „zivilen Tod“ erleiden, also außerhalb der Legalität kein normales ziviles Leben mehr führen können. Ich sehe die Desertion auch als Form der Kriegsdienstverweigerung an. Die Handlung, die Motivation für die Verweigerung dann offen auszusprechen, bringt sie öffentlich zu Gehör.

Das Bündnis kann die Idee der Kriegsdienstverweigerung in der Gesellschaft verbreiten und es damit zu einem Thema für die dissidenten Gruppen machen. Zum Beispiel könnten wir auch mit den Sozialisten zusammenarbeiten, wenn es um die Frage des Einsatzes von Ersatzdienstleistenden als billige Arbeitskräfte geht. Weil viele Organisationen am Bündnis beteiligt sind, ist es vertrauenswürdig für andere Organisationen und Menschen. Neue Personen können sich an das Bündnis wenden und Informationen erhalten. Die Arbeit hängt nicht mehr von einzelnen Verweigerern ab, sondern wird auf eine breitere Basis gestellt.

Mehmet Bal: Ich habe meine Probleme mit dem Bündnis, weil es bislang keine klare Organisationsstruktur gibt. So ist es z.B. schwierig, Geld aufzutreiben. Es ist auch nicht klar, wie die Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern konkret aussieht. Und so habe ich das auch heute bei dem Treffen mit internationalen Gästen erlebt. Niemand aus dem Bündnis hatte vorher überlegt, wer ein Protokoll schreibt oder dass es Sinn machen könnte, eine eMail-Liste der Anwesenden zu erstellen. Ich bin sehr neugierig, wie sich das in der Zukunft entwickeln wird.

Mehmet Tarhan: Bei Lambda Istanbul habe ich allerdings die Erfahrung gemacht, dass eine solche Zusammenarbeit funktionieren und fruchtbar sein kann. Als es möglich war, die Gruppe als Organisation anzusprechen - und nicht nur Individuen - konnten Projekte initiiert und Vorschläge eingebracht werden. Das hat dazu beigetragen, dass die AktivistInnen mehr Verantwortung übernommen und sich besser eingebracht haben. So wurde Lambda Istanbul schließlich von einem reinen Schwulen-Club zu einer Organisation für Lesben, Schwule (gays), Bisexuelle und Transsexuelle (LGBT) und damit zu einer politischen Organisation.

Wie habt Ihr die Konferenz erlebt? Was war positiv, was negativ?

Sedef Cakmak: Am Ende der Konferenz hatte ich das Gefühl: „Ja, so ist es, aber was soll nun passieren?“ Uns blieb am Schluss zu wenig Zeit, um zu diskutieren und möglicherweise auch Ideen und Perspektiven zu entwickeln. Mir war auch nicht einsichtig, warum die Konferenz nur eine geschlossene Veranstaltung war, so dass z.B. alle vorher ihre Namen angeben mussten. So war es nicht möglich, ein größeres Publikum zu erreichen, auch wenn ich verstehe, dass dies geschah, um kein Verbot der Konferenz durch die Sicherheitskräfte zu riskieren. Wir hätten dafür eine andere Lösung finden müssen. Wichtig hingegen war, dass hier AktivistInnen, AkademikerInnen und ExpertInnen für Rechtsfragen zusammenkamen. Um gegen Militarismus zu arbeiten, müssen wir alle Wege nutzen und alle einbeziehen.

Mehmet Tarhan: Bedauerlich war für mich, dass keine türkische Kriegsdienstverweigerin auf einem Podium gesprochen hat. Auch bei der Darstellung über die Geschichte der Kriegsdienstverweigerung in der Türkei fehlte dieser Aspekt völlig. So blieb das Gefühl, dass das Plenum zur Kritik des Patriarchats nur einen symbolischen Charakter hatte. Als wir mit den ersten Vorbereitungen für die Konferenz begannen, waren wir nur eine kleine Gruppe. Und dennoch ist es zu einer großen Konferenz geworden. Ich habe erlebt, dass selbst diejenigen, die nur über rechtliche Fragen der Kriegsdienstverweigerung diskutiert haben, die Kriegsdienstverweigerung als Kritik am Militarismus verstehen.

Balam Kenter: Für mich war das Wichtigste das Plenum zur Kritik des Patriarchats. Der feministische Blickwinkel ist mir beim Thema Antimilitarismus sehr wichtig. Und dann fand ich eine Bemerkung eines Teilnehmers am Ende der Konferenz sehr bedeutsam. Er wies darauf hin, dass wir auch auf die LGBT-Gruppen zugehen müssten.

Mehmet Bal: Das ganze letzte Jahr war die Kriegsdienstverweigerung Thema in den Medien, aber auch auf der Straße. Mit der Konferenz hat es auch die akademische Szene erreicht, was vor fünf oder zehn Jahren nicht vorstellbar gewesen wäre. Das ist positiv. Gestärkt hat mich auch, zu sehen, dass z.B. Leute aus Griechenland zur Konferenz gekommen sind.

In der Konferenz gab es am Schluss eine längere Diskussion zur Frage, wie ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei umgesetzt werden könnte. Was ist Eure Position dazu?

Mehmet Bal: Ein Ersatzdienst dient immer dem Militarismus. Ich bin mit Allen einverstanden, die auf Basis von Verfassungsänderungen ein Ende der Wehrpflicht anstreben. Ein Ersatzdienst würde aber nur bedeuten, dass es eine Art Zwangsarbeit gibt.

Mehmet Tarhan: Ich finde mich in der Position des Bündnisses für Kriegsdienstverweigerung wieder, auch wenn die politischen Parteien, die sich am Bündnis beteiligen, das europäische Modell mit einem Zivildienst bevorzugen. Das Bündnis fordert die sofortige rechtliche Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung - ohne Bedingung. Zudem gibt es einen Konsens darüber, dass die Repressionen gegen Kriegsdienstverweigerer auf sozialer und rechtlicher Ebene sofort beendet werden müssen. Darüber hinaus besteht Einigkeit für den Fall, wenn es so etwas wie einen Ersatzdienst geben sollte. Dann, so das Bündnis, ist die Ausgestaltung nicht Sache des Staates, sondern der Kriegsdienstverweigerer selbst. Sie haben darüber zu entscheiden, ob sie überhaupt einen Ersatzdienst leisten. Wenn sie es tun wollen, haben sie über die Art und Dauer des Ersatzdienstes zu entscheiden.

Nach dieser Definition gibt es wenig Raum für Entscheidungen des Staates über den Ersatzdienst. Und auf jeden Fall will das Bündnis verhindern, dass der Ersatzdienst zu einer Waffe des Staates gegen die Kriegsdienstverweigerer wird.

 

Interview mit Mehmet Tarhan, Mehmet Bal, Balam Kenter und Sedef Cakmak vom 29. Januar 2007. Übersetzung und Bearbeitung: Rudi Friedrich. Der Beitrag erschien in: Connection e.V. und AG "KDV im Krieg" (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, März 2007.

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