Situation russischer Kriegsdienstverweigerer

von Bernhard Clasen

Bernhard Clasen sprach im Januar 2009 mit Lew Lewinson, Berater des Menschenrechtszentrums Memorial und Sergej Krivenko, Geschäftsführer der Allrussischen Koalition für einen demokratischen Zivildienst. Sie berichten über die aktuelle Situation der Kriegsdienstverweigerer in Russland und über die weiter bestehenden Probleme. (d. Red.)

Seit 1992 wird das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nach der russischen Verfassung garantiert. Verschiedene Menschenrechts- und Friedensgruppen waren lange dafür eingetreten, das ein ausführendes Gesetz dazu verabschiedet wird. Das geschah im Jahre 2002 mit einem Beschluss der russischen Duma.

Das Militär hatte sich bemüht, mit dem neuen Gesetz den Zivildienst so unattraktiv wie möglich zu machen. Einem von Spezialisten des Militärs ausgearbeiteten Gesetzentwurf zufolge sollte der Zivildienst dem Verteidigungsministerium untergeordnet werden, er hätte vier Jahre dauern sollen und nur fern der Heimat abgeleistet werden dürfen. Zum Vergleich: die Wehrpflicht beträgt in Russland seit Januar 2008 nur ein Jahr. Das konnte das Militär so nicht durchsetzen. Laut dem 2002 verabschiedetem Gesetz zum Zivildienst sind Zivildienstleistende in Russland dem Ministerium für Arbeit und Soziales, und inzwischen der Bundesbehörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) untergeordnet.

Trotzdem kritisieren Menschenrechtler im Wesentlichen vier Punkte des russischen Zivildienstgesetzes:

Biographisches zu den Gesprächspartnern

Lew Lewinson, geb. 1963 in Moskau, von Beruf Journalist, war von 1991 bis 2003 als Mitarbeiter im russischen Parlament tätig. Lewinson arbeitete an mehreren Gesetzentwürfen mit. Seit 1999 ist er Mitglied im Fachbeirat des Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation. Gleichzeitig ist er Berater des Menschenrechtszentrums Memorial. Er schrieb über 500 Artikel zu Menschenrechten und juristischen Fragen. 2005 gab er den „Leitfaden für Zivildienstleistende” heraus.

Sergej Krivenko, geb. 1962 in einem Moskauer Vorort, ist Doktor der Physik und mathematischen Wissenschaften. Seit 1988 ist Krivenko Mitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial. Seit 2002 ist Krivenko Geschäftsführer der Allrussischen Koalition für einen demokratischen Zivildienst, seit 2004 Mitglied im Fachbeirat des Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation, seit 2006 Koordinator der Initiative Der Bürger und die Armee. Neben zahlreichen Veröffentlichungen wirkte Krivenko auch an der Erstellung des „Leitfadens für Zivildienstleistende” mit.

1. Der Zivildienst dauert erheblich länger als der Militärdienst, in der Regel ist er 1,75 Mal länger. Zivildienstleistende, die in einer dem Verteidigungsministerium unterstellten Bauorganisation oder Fabrik arbeiten, müssen „nur” 1,5 Mal länger dienen. Als der Wehrdienst bis 2007 noch 24 Monate dauerte, betrug die Zeit, in der Zivildienstleistende arbeiteten, 42 Monate, bzw. 36 Monate für die, die in einer dem Verteidigungsministerium gehörenden Fabrik arbeiteten. Für einen jungen Menschen war dies ein sehr langer Zeitraum. Da der Wehrdienst 2007 auf 18 Monate gesenkt, und 2008 auf ein Jahr reduziert wurde, haben sich auch die Zivildienstzeiten entsprechend reduziert. Derzeit dauert der Zivildienst ein Jahr und 9 Monate, bzw. 1 Jahr und sechs Monate für die, die in einer dem Verteidigungsministerium gehörenden Struktur arbeiten.

2. Laut Gesetz dürfen die Zivildienstleistenden ihren Zivildienst nicht heimatnah ableisten. Diese Vorschrift gehört nach Auffassung von Menschenrechtlerm, wie Lewinson und Krivenko, abgeschafft. Zivildienst kann in Russland nur in staatlichen Organisationen abgeleistet werden. Städtische Einrichtungen, wie z.B. Kindergärten, dürfen keine Zivildienstleistenden einstellen. Immer mehr staatliche Stellen bieten der Bundesbehörde Rostrud Plätze für Zivildienstleistende an. Doch während auf der einen Seite die Zahl der freien Zivildienststellen zunimmt, gibt es immer weniger Plätze, mit denen Zivildienstleistenden auch eine Unterbringung im eigenen Wohnheim zur Verfügung gestellt werden kann. Nach einer Statistik verfügten im Jahre 2004 74 % der insgesamt 1.233 angebotenen Stellen über eine Unterkunft im Wohnheim, im Jahre 2008 waren es nur noch 9 % von insgesamt 9.209 angebotenen Stellen.1

Das Gesetz schreibt vor, dass der Zivildienst „in erster Linie” nicht heimatnah abgeleistet werden soll. Doch die Beamten von Rostrud können Kriegsdienstverweigerern nur Zivildienststellen mit eigenem Wohnheim anbieten. In dieser Situation ist es kaum möglich, den Kriegsdienstverweigerern eine Zivildienststelle anzubieten, in denen die Betreffenden eine ihrer Ausbildung entsprechende Tätigkeit ausüben könnten. So müssen Ingenieure in Krankenhäusern, Programmierer in Sporteinrichtungen für Kinder, Pädagogen als Lastenträger in Fabriken arbeiten. Auch die Bezahlung der Stellen, in denen Zivildienstleistende eingesetzt werden, liegt häufig unter dem Existenzminimum, das im Dezember 2008 bei 17.000 Rubel lag. Viele Zivildienstleistende erhalten jedoch nur drei- bis viertausend Rubel. Krivenko und Lewinson fordern deshalb, die Vorschrift, dass der Zivildienst nicht heimatnah abgeleistet werden solle, abzuschaffen. Durch die Rücknahme dieser Vorschrift könne mehr darauf geachtet werden, dass die Betreffenden eine Arbeit ausüben könnten, die ihrem erlernten Beruf entspricht, besser bezahlt wird und den Kontakt zur Familie ermöglicht.

3. Zivildienstleistende können in dem Verteidigungsministerium unterstehenden Baueinrichtungen eingesetzt werden. Das Verteidigungsministerium hat eine Baufirma, Spezstroj, in der auch Zivildienstleistende eingesetzt werden dürfen. In Ekaterinburg baut Spezstroj in einer Fabrik Panzer und in einer anderen Fabrik Straßenbahnen. In dem Werk, in dem Straßenbahnen gebaut werden, werden auch Zivildienstleistende eingesetzt.

Die Arbeits- und Wohnbedingungen in den Betrieben von Spezstroj sind für die Zivildienstleistenden gut. Es wird auch gewährleistet, dass sie nicht im militärischen Bereich eingesetzt werden. „Das ist wirklich ein kleiner Sieg”, so Krivenko, „der Zivildienst in Russland ist heute als zivil zu bezeichnen. Zwar lässt das Gesetz einen Dienst der Zivildienstleistenden ohne Waffe in militärischen Einheiten zu, doch hier hat sich die Arbeitsbehörde Rostrud durchgesetzt, so dass Zivildienstleistende nur zu nichtmilitärischen Arbeiten eingesetzt werden dürfen.” Leider habe man jedoch nicht verhindern können, dass sich die Militärkommissariate, vergleichbar den Kreiswehrersatzämtern, in die Organisation des Zivildienstes einmischen können. Gemeinsam mit Beamten von Rostrud entscheiden Angehörige des Militärkommissariates, an welche Zivildienststellen Kriegsdienstverweigerer entsandt werden.

4. Der Antrag auf Kriegsdienstverweigerung muss mindestens ein halbes Jahr vor der Einberufung gestellt werden. In der Praxis bedeutet diese Vorgabe des Gesetzes, dass junge Männer bereits im Alter von 17½ Jahren einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen müssen, bevor sie mit 18 Jahren einberufen werden. Erschwerend kommt hinzu, dass das Gesetz zur Kriegsdienstverweigerung kaum bekannt ist.

Von der Antragstellung zum Zivildienst

Wer das Zivildienstgesetz kennt, sich einigermaßen artikulieren kann und fest entschlossen ist, keinen Militärdienst abzuleisten, wird in der Regel als Kriegsdienstverweigerer anerkannt. Er muss seine Gründe, warum er keinen Militärdienst leisten will, einer zuständigen Kommission mitteilen. Diese Gründe können religiöser, ethischer oder politischer Natur sein. Die Kommission kann der Antrag nur dann ablehnen, wenn nachweislich Widersprüche zwischen den dargestellten Gründen und der Biographie des Antragstellers bestehen. Wer beispielsweise angibt, er sei in antimilitaristischen Organisationen aktiv, dies aber einer Überprüfung nicht standhält, hat schlechte Karten. Da die Beweislast jedoch bei der Kommission liegt, werden nur 10% bis 15% der Antragsteller aus inhaltlichen Gründen abgelehnt. Wer gegen diese Entscheidung klagt, erhält fast immer eine Anerkennung durch das Gericht.

Über 80% der Ablehnungen werden aus formalen Gründen ausgesprochen, falls z.B. der Antrag nicht rechtzeitig genug gestellt wurde.

Zahlreiche Organisationen und Firmen bieten Zivildienststellen an. Der Zivildienst kann in Krankenhäusern, Altersheimen, bei der Post, im kulturellen Bereich oder auf dem Bau abgeleistet werden. Wie oben erwähnt, stellt sich die Vorgabe der heimatfernen Unterbringung als Problem dar. Das setzt voraus, dass Zivildienstleistende in Wohnheimen untergebracht werden können, aber die meisten Wohnheime wurden in den letzten 10 bis 15 Jahren geschlossen. Nur noch große Betriebe verfügen über Wohnheime und somit nur noch 9 % Prozent der Organisationen, die Zivildienstplätze anbieten. Aufgrund dessen wohnen viele Zivildienstleistende lediglich in freien Zimmern, z.B. in den Krankenhäusern, was insbesondere in psychiatrischen Kliniken unzumutbar ist. Oft ist auch die Bezahlung der im sozialen Bereich arbeitenden Zivildienstleistenden sehr niedrig und liegt bei umgerechnet etwa 100 e. Damit können die Betreffenden nicht einmal ihre Mahlzeiten bestreiten. Wer in einer solchen Situation von zu Hause oder seiner religiösen Gemeinschaft keine Unterstützung erhält, sieht sich einer schwierigen Situation gegenüber. Die Kehrseite des geringen Angebots an Zivildienstplätzen mit Wohnheimen ist, dass inzwischen etwa 40 % der Dienstleistenden den Dienst an ihrem Heimatort antreten und zu Hause wohnen können.

Oft müssen Zivildienstleistende im sozialen Bereich 24 Stunden lang arbeiten. Da sie den gleichen Vorschriften der Arbeitsgesetzgebung unterliegen, wie alle anderen ArbeitnehmerInnen in Russland, haben sie damit Anspruch auf drei freie Tage. Die Arbeitszeitregelung garantiert eine 40-Stunden Woche, einen Jahresurlaub von 28 Kalendertagen und eine Abgeltung von Überstunden durch Freizeit oder Sonderzahlungen.

Wer wird in Russland Kriegsdienstverweigerer?

Derzeit gibt es in Russland etwa 1.200 anerkannte Kriegsdienstverweigerer. Mehr als 80% der Verweigerer lehnen die Ableistung des Militärdienstes aus religiösen Gründen ab. Es sind Zeugen Jehovas, Pfingstler, Adventisten. Kriegsdienstverweigerer aus religiösen Gründen sind am besten informiert und haben auch während des Zivildienstes eine Infrastruktur, die sie unterstützt. Schwer haben es all die, die ohne Unterstützung zu der Entscheidung gekommen sind, den Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern. 400 Männer haben ihren Zivildienst bereits abgeleistet.

Fußnote

1 Die Statistik wurde auf einem Seminar der Behörde Rostrud im November 2008 in Woronesch vom stellvertretenden Vorsitzenden der Behörde, A.V. Wowtschenko, vorgelegt.

 

Bernhard Clasen ist Dolmetscher für russisch. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der Situation der Menschenrechte in Russland. Im Januar 2009 besuchte er verschiedene Organisationen in Moskau (www.clasen.net).

Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Broschüre »Machtproben im Kaukasus«, Februar 2009.

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