Abschiebeschutz für Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei

von Verwaltungsgericht Chemnitz

Wir dokumentieren eine Entscheidung des VG Chemnitz, das im Falle eines Kriegsdienstverweigerers aus der Türkei einen Abschiebeschutz wegen drohender Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention sah. Aufgrund der Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung des Klägers bezüglich seiner Kriegsdienstverweigerung drohe ihm eine „endlose Serie von Anklagen und Verurteilungen wegen ‘Befehlsverweigerung’“, was vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt worden war. (d. Red.)

Tatbestand

Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er habe den Wehrdienst am 3.1.2005 antreten sollen. Er wolle keinen Wehrdienst ableisten. Um den Wehrdienst nicht antreten zu müssen, habe er ins Ausland gewollt.

Mit Bescheid vom 13.3.2006 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab. Die Wehrdienstentziehung könne sein Asylbegehren nicht stützen.

Am 27.3.2006 hat der Kläger Klage erhoben. Er trägt ergänzend zum bisherigen Vorbringen vor, seine pazifistische Einstellung sei für ihn maßgeblich, den Wehrdienst zu verweigern. Er sei überzeugt, dass Gewalt von keiner Seite das richtige Mittel sei, um Konflikte zu lösen, und unterstütze deshalb auch in keiner Weise den bewaffneten Kampf der Guerilla. Er hege die berechtigte Furcht, während seines Militärdienstes in den kurdischen Gebieten oder eventuell bei einem Einsatz im Nordirak eingesetzt zu werden, so dass er gezwungen wäre, ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder eine schwere Straftat im Sinne des Art. 12 der Qualifikationsrichtlinie zu begehen. Die Bestrafung wegen Wehr- oder Befehlsverweigerung stelle eine politische Verfolgung im Sinne von Art. 9. Abs. 2 d der Qualifikationsrichtlinie dar. Außerdem wird ausführlich zur Frage der Wehrdienstverweigerung und Bestrafung von Militärdienstverweigerern in der Türkei bzw. Folter und Misshandlung während der Militärzeit in der Türkei vorgetragen.

Der Kläger beantragt, den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen sowie festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei vorliegen bzw. hilfsweise das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG festzustellen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist nur teilweise begründet. Die Ziffern 1 und 2 des Bescheides des Bundesamtes vom 13.3.2006 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger, der keinen Anspruch auf Asylanerkennung bzw. auf die Feststellung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG hat, nicht in seinen Rechten. Hinsichtlich der Ziffer 3 des Bescheides vom 13.3.2006 ist die Klage begründet, denn der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 5 AufenthG.

Nach Auffassung des Gerichts ist der Kläger in der Türkei weder vor seiner Ausreise von individueller asylerheblicher Verfolgung betroffen und bedroht gewesen noch droht ihm diese jetzt bei seiner Rückkehr.

Glaubhaft ist, dass der Kläger sich in der Türkei dem Wehrdienst entzogen hat und - wie er selbst einräumt - weiter entziehen will, weil er aus pazifistischen Gründen gegen jede Art von Kriegsdienst sei. Auch wenn er in der Türkei wegen Wehrdienstentziehung gesucht werden wird und mit seiner Einberufung zu rechnen hat, droht im insoweit keine politische Verfolgung. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger im Zusammenhang mit dem Wehrdienst in der Türkei mit Maßnahmen zu rechnen hätte, die den Charakter einer politischen Verfolgung tragen könnten. Der Gefahr wegen der Nichtableistung des Wehrdienstes eine Haftstrafe verbüßen zu müssen, unterliegen nämlich alle männlichen türkischen Staatsangehörigen unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit. Kurden haben auch als Wehrdienstleistende keine Nachteile aufgrund ihrer Abstammung zu befürchten.

Allein der Umstand, dass in der Türkei das Recht zur Wehrdienstverweigerung nicht besteht, stellt auch keine Verfolgungsmaßnahme i.S.d. Art. 16a Abs. 1 GG, § 60 Abs. 1 AufenthG dar. Denn es gibt kein international anerkanntes Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Die Strafverfolgung von Wehrdienstflüchtlingen und Wehrdienstverweigerern in der Türkei zielt weder darauf ab, noch ist sie darauf angelegt, Wehrdienstpflichtige oder Wehrdienstleistende in asylerheblichen Merkmalen zu treffen, sondern dient nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine bürgerliche Pflicht.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit Urteil vom 7.7.1989 entschieden, dass Art. 3 EMRK auch auf Auslieferungsfolgen anwendbar ist, die außerhalb der Herrschaftsgewalt des Vertragsstaates (hier: Deutschland) eintreten. Das bedeutet, dass auch Menschenrechtsverletzungen berücksichtigt werden müssen, die im Fall einer Abschiebung erst in der Türkei eintreten. Der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wird nur gewährt, wenn konkrete und ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, der Betroffene werde im Abschiebezielstaat unmenschliche Behandlung erleiden. Die bloße Möglichkeit einer solchen Behandlung reicht nicht aus.

Gemessen an diesen Vorgaben ist dem Kläger Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu gewähren.

Das Gericht glaubt dem Kläger, dass er aufgrund seiner familiären und persönlichen Erlebnisse den Wehrdienst mit Gewalt und Waffen aus ganzem Herzen ablehnt. Im Laufe der mündlichen Verhandlung hat er durch sein Auftreten und seine Schilderungen das Gericht von seiner unbedingt pazifistischen Einstellung überzeugt. Das Gericht hat den Eindruck gewonnen, dass der Kläger zwar keine unnötigen Probleme mit staatlichen Organen verursachen möchte und Auseinandersetzungen daher gerne von vornherein aus dem Weg geht. Eine solche lässt sich für ihn aber in Bezug auf seine Wehrpflicht in der Türkei nicht vermeiden, so dass ihm aus seinen bisherigen Erfahrungen heraus allein die Vorstellung, den Wehrdienst in der türkischen Armee ableisten zu müssen, psychische und körperliche Beschwerden verursacht.

Es besteht die konkrete Gefahr, dass der Kläger unmittelbar bei seiner Einreise am Flughafen oder zumindest innerhalb weniger Tage danach von den türkischen Sicherheitskräften wegen Wehrdienstentziehung belangt und in Haft genommen werden wird. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes haben Wehrdienstflüchtige schon bei der Einreise damit zu rechnen, gemustert und einberufen zu werden.

Da der Kläger aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigern wird, sieht er sich aufgrund der geltenden Rechtslage in der Türkei einer endlosen Serie von Anklagen und Verurteilungen wegen „Befehlsverweigerung“ ausgesetzt, die letztlich nur dazu führen sollen, seinen Widerstand und seinen Willen zu brechen (EGMR, Urt. vom 24.1.2006, Ülke./.Türkei). Im Übrigen ist die Praxis von Folter und Misshandlung in türkischen Haftanstalten immer noch weit verbreitet, selbst wenn das Auswärtige Amt betont, dass sich die Zahl und Intensität von Menschenrechtsverletzungen in Form von Folter und Misshandlungen seit 1999 kontinuierlich vermindert hätte. Nichtsdestoweniger ist es trotz der Reformbestrebungen in der Türkei auch nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden. Zudem wurden die Hälfte aller Foltervorwürfe im Jahr 2006 in türkischen Haftanstalten aus Militärhaftanstalten berichtet. Dies bestätigen auch die von der Klagepartei vorgelegten Presseberichte über Folter und mysteriöse Todesfälle von Soldaten beim türkischen Militär im Jahre 2006. Damit besteht für den Kläger wegen der Wehrdienstverweigerung im Falle seiner Rückkehr in die Türkei die beachtlich wahrscheinliche landesweite Gefahr der Folter in Militärgefängnissen.

Urteil des VG Chemnitz vom 2. Mai 2007, AZ A 2 K 169/06. Auszüge. Das Urteil ist rechtskräftig. Übermittelt von Rechtsanwältin Antonia v. d. Behrens. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Juli 2009.

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