André Shepherd

André Shepherd

Klagebegründung im Asylverfahren von André Shepherd - TEIL I

An das Bayerische Verwaltungsgericht München

von Dr. Reinhard Marx

TEIL I - Weiter zu TEIL II


Der angefochtene Bescheid versagt dem Kläger zu Unrecht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 4 AsylVfG). Er kann deshalb keinen rechtlichen Bestand haben. Vielmehr ist die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Soweit im angefochtenen Bescheid Ausführungen zur Asylberechtigung und in diesem Zusammenhang zum Begriff der „politischen Verfolgung“ (Art. 16a Abs. 1 GG) gemacht werden (Bescheid, S. 7 bis 13), sind diese im anhängigen Verfahren nicht relevant, weil eine Verpflichtung zur Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter im Klageverfahren nicht beantragt wird.

I. Keine Anwendung des Begriffs der politischen Verfolgung

Bereits im Ansatz krankt der angefochtene Bescheid an einem Rechtsfehler, weil er die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft durch das Sieb des Asylrechts nach Art. 16a Abs. 1 GG filtert. Insoweit wird ausgeführt: „Die in den Ausführungen zu Artikel 16a Abs. 1 GG aufgestellten Grundsätze zur Problematik von Desertion, Militärdienstverweigerung und daraus resultierenden Sanktionen gelten gleichermaßen auch im Bereich der Flüchtlingsanerkennung“ (Bescheid, S. 14).

Diese Bewertung mag durch § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG veranlasst sein, wonach Art. 7 bis 10 RL 2004/83/EG für die Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen einer Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, also von Art. 1 A Nr. 2 GFK, vorliegen, „ergänzend“ Anwendung finden. Damit werden die unionsrechtlichen Voraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung jedoch nicht sachgerecht und vollständig umgesetzt. Die Voraussetzungen des Verfolgungsbegriffs der Konvention werden für die Union zwecks einheitlicher Anwendung im Unionsgebiet durch alle Mitgliedstaaten in Art. 9 RL 2004/83/EG definiert. Der ergänzende Anwendungsbefehl in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG ist mit Unionsrecht unvereinbar, weil der Gesetzgeber hiermit seine Aufgabe der Umsetzung im Bereich des Flüchtlingsschutzes verfehlt. Vielmehr ist für die Umsetzung der Richtlinie und damit auch für die Rechtsanwendung im anhängigen Verfahren von folgender Rechtslage auszugehen:

Bestehen Zweifel, ob das nationale Recht einen Rechtsakt des Sekundärrechts zutreffend umsetzt, ist entsprechend dem Gebot der richtlinienkonformen Auslegung unmittelbar auf die Richtlinie 2004/83/EG zurückgreifen (so auch BVerwG, NVwZ 2008, 1241 (1245), Rdn. 32 = InfAuslR 2008, 474). Die Richtlinie ihrerseits muss im Zweifel in Übereinstimmung mit der GFK ausgelegt werden (vgl. Erwägungsgrund Nr. 17 RL 2004/83/EG). Entsprechend den völkerrechtlichen Vorgaben ist § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG Umsetzungsnorm für die Auslegung und Anwendung des Flüchtlingsbegriffs in Art. 1 Nr. 2 GFK (vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 17, Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG). Dabei stellt die Verweisungsregel in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sicher, dass bei der Auslegung und Anwendung des Flüchtlingsbegriffs des Art. 1 A Nr. 2 GFK die entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie berücksichtigt werden.

Die Umsetzung einer Richtlinie in innerstaatliches Recht erfordert zwar nicht unbedingt eine förmliche und wörtliche Übernahme ihrer Bestimmungen in eine ausdrückliche, besondere nationale Rechtsvorschrift. Ihr kann durch einen allgemeinen rechtlichen Kontext Genüge getan werden, wenn dieser tatsächlich die vollständige Anwendung der Richtlinie hinreichend klar und bestimmt gewährleistet (EuGH, Rechtssache C-217/97, § 31 – Kommission gegen Bundesrepublik Deutschland). Daraus folgen nicht nur die Verpflichtung zur Umsetzung von Richtlinien, sondern für den Fall der Kollision auch der Anwendungsvorrang des Unionsrechts und eine Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung nationaler Rechtsvorschriften. Eine lediglich ergänzende Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG ist mit diesen Grundsätzen unvereinbar. Dem Rechtsanwender wird dadurch nämlich bedeutet, er solle zunächst deutsche Rechtsvorschriften anwenden, dabei deren spezifischen Sinngehalt, den im deutschen Recht vorgegebenen Gesetzeszusammenhang sowie den Zweck der deutschen Norm ermitteln und lediglich bei Zweifeln, ergänzend einen Blick auf die Qualifikationsrichtlinie werfen. So verfährt die Beklagte im angefochtenen Bescheid mit dem Hinweis auf Art. 16a Abs. 1 GG (Bescheid, S. 14). Wenn auch eine Richtlinie nicht wörtlich umzusetzen ist, muss doch durch die Art der Umsetzung gewährleistet werden, dass ihr systematischer Zusammenhang sowie ihr Zweck und ihr Ziel die Auslegung und Anwendung der nationalen Umsetzungsnormen bestimmen.

Unzutreffend ist im Blick auf den Flüchtlingsschutz darüber hinaus die ausschließliche Fixierung auf den Begriff der »Verfolgung« in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG. Dementsprechend ist die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsbegriffs auf den Begriff der Verfolgungshandlung bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Begriffs der Verfolgungsgründe fixiert (vgl. BVerwGE 134, 221 (227) = NVwZ 2009, 1167 = InfAuslR 2009, 363; krit. hierzu Marx, ZAR 2010, 1; VGH BW, InfAuslR 2008, 97 (98); Hess.VGH, EZAR NF 62 Nr. 17; s. auch BVerwG, NVwZ 2011, 755 Vorabentscheidungsersuchen zu dieser Frage an den EuGH nach Art. 267 AEUV). Die Richtlinie enthält indes ein auf Art. 1 A Nr. 2 GFK beruhendes Konzept, das auf der Verfolgung (Art. 9 RL 2004/83/EG) dem Wegfall des nationalen Schutzes (Art. 6 bis 8 RL 2004/83/EG) und der Anknüpfung an Verfolgungsgründe (Art. 10 RL 2004/83/EG) beruht. Entsprechend der Staatenpraxis zur GFK und dem Zweck der GFK steht am Ausgangspunkt der Prüfung die Verfolgungshandlung (Art. 9 RL 2004/83/EG). Alle für die Entscheidung wesentlichen Tatsachen und Umstände sind aufzuklären (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG). Art. 2 Buchst. b) RL 2004/83/EG verweist für die Auslegung und Anwendung der Richtlinie auf die GFK und das New Yorker Protokoll und bezeichnet in Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG den in Art. 1 A Nr. 2 GFK enthaltenen Flüchtlingsbegriff. Für die nachfolgenden Bestimmungen der Art. 4 bis 14 RL 2004/83/EG ist daher der Flüchtlingsbegriff der GFK zugrunde zu legen.

Ferner wird bei der dritten Prüfungsphase der Kausalzusammenhang zwischen der Verfolgungshandlung (Art. 9 RL 2004/83/EG) und den Verfolgungsgründen (Art. 10 RL 2004/83/EG) ermittelt. Zwar besteht zwischen der Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgründen ein Kausalzusammenhang (Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG). Zunächst sind jedoch die jeweiligen spezifischen Voraussetzungen beider Begriffselemente festzustellen. Dabei darf bei der Ermittlung der Verfolgungshandlung die Prüfung nicht nach Maßgabe der Verfolgungsgründe erfolgen. Dies verdeutlicht etwa der weitaus umfassendere Diskriminierungsansatz der Regelbeispiele in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG gegenüber den fünf enumerativen Verfolgungsgründen nach Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG. Umgekehrt darf bei der Feststellung des Verfolgungsgrundes nicht die Verfolgungshandlung in die Prüfung einbezogen werden. Dies hat insbesondere Auswirkungen auf den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Vielmehr ist nach der Ermittlung beider Begriffselemente zu prüfen, ob ein spezifischer Kausalzusammenhang festgestellt werden kann (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG).

II. Maßgeblichkeit der Furcht vor begründeter Verfolgung

Im angefochtenen Bescheid wird festgestellt, Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG setze voraus, dass „eine völkerrechtswidrige Tat objektiv“ vorliegt. Es reiche nicht aus, wenn der Verweigerer das fragliche Handeln nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könne oder für ethisch nicht vertretbar erachte (Bescheid, S. 14). Die Beklagte wendet damit im Bereich des Flüchtlingsschutzes nicht die verfahrensrechtlichen Regeln für den Flüchtlingsschutz, die auf dem Begriff der begründeten Verfolgungsfurcht beruhen, sondern völkerstrafrechtliche Grundsätze an, wonach dem Verweigerer die Flüchtlingseigenschaft nur zuerkannt wird, wenn er „jenseits vernünftiger Zweifel“ (objektive völkerrechtswidrige Straftat) nachweisen kann, dass er sich beim Verbleib in den Streitkräften der Begehung eines völkerstrafrechtlichen Delikts schuldig gemacht hätte. Es wird damit nicht der im Flüchtlingsschutz maßgebliche, auf dem präventiven Schutz des Einzelnen beruhende Nachweis der begründeten Furcht vor Verfolgung, sondern eine repressive strafrechtliche Nachweispflicht gefordert. Soll im ersten Fall der Eintritt eines Erfolgs abgewendet werden (Prävention), wird im zweiten nachträglich festgestellt, ob ein bestimmter (strafrechtlicher) Erfolg eingetreten ist. Bereits diese Überlegungen verdeutlichen, dass der beweisrechtliche Ansatz der Beklagten nicht nur nicht mit dem präventiv ausgerichteten Flüchtlingsrecht unvereinbar ist, sondern aus rechtlicher Sicht unhaltbar ist. Denn im Voraus kann nicht beurteilt werden, ob ein Erfolg jenseits vernünftiger Zweifel eintreten wird. Dem Einzelnen wird damit abverlangt, darzutun, dass er in der Zukunft mit nahezu an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum völkerstrafrechtlichen Täter geworden wäre. Damit werden die Nachweispflichten in unerfüllbare Höhen geschraubt und dem Flüchtlingsrecht durch verfahrensrechtliche Beweisregeln das Lebenslicht ausgeblasen.

Unzutreffend weist die Beklagte in diesem Zusammenhang darauf hin, nach der Kommissionsbegründung lägen nur „fundierte“ Gründe (für die Dienstverweigerung) vor, „wenn die geforderte Beteiligung an militärischen Aktionen tatsächlich den Grundregeln menschlichen Verhaltens“ widerspreche oder die militärischen Aktionen von der internationalen Gemeinschaft „verurteilt worden“ seien (Bescheid, S. 14). Nach Auffassung der Beklagten kann danach einem Kriegsdienstverweigerer nur dann die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden, wenn der von ihm geforderte Einsatz „tatsächlich“ mit Völkerrecht unvereinbar ist. Konsequent wird dieser Ansatz in der weiteren Bescheidbegründung weiterverfolgt, indem dem Kläger die Nachweispflicht auferlegt wird, dass ein „zukünftig noch zu leistender Militärdienst die Begehung von Handlungen und Verbrechen,“ die mit Völkerrecht unvereinbar sind, „umfasst“ (Bescheid, S. 15). Er habe mit anderen Worten nachzuweisen, dass er bei einer Fortsetzung seines Militärdienstes „zwangsläufig in Handlungen oder Taten im Sinne des Art. 12 Abs. 2 RL 2004/83EG verwickelt worden wäre“ (Bescheid, S. 18).

Entgegen der Auffassung der Beklagten hat die Kommission in ihrem ursprünglichen Entwurf die Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern im Asylverfahren wie folgt begründet:

In Kriegs- oder Konfliktsituation kann eine strafrechtliche Verfolgung oder Bestrafung wegen der Weigerung der allgemeinen Wehrpflicht nachzukommen, per se eine Verfolgung darstellen, wenn der Betreffende nachweisen kann, dass der Wehrdienst seine Teilnahme an militärischen Aktionen erfordert, die er aufgrund echter und tief empfundener moralischer, religiöser oder politischer Überzeugung oder aus sonstigen berechtigten Gewissensgründen strikt ablehnt. Solche Gewissensgründe lassen sich leichter nachweisen, wenn die militärischen Aktionen, an denen sich der Betreffende beteiligen soll, den Grundregeln des menschlichen Verhaltens widersprechen und/oder von der Völkergemeinschaft verurteilt worden sind. Dies ist jedoch keine unentbehrliche Voraussetzung, denn auch wenn die militärischen Aktionen generell im Einklang mit dem Kriegsrecht erfolgen, kann der Betreffende berechtigte Gewissensgründe für die Verweigerung haben. Das kann der Fall sein, wenn er einer ethnischen Minderheit angehört und von ihm verlangt wird, sich an militärischen Aktionen gegen diese Minderheit zu beteiligen“ (Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, KOM(2001) 510endg.; Ratsdok. 13620/01, in: BR-Drucks. 1017/01, S. 22, Hervorhebungen nicht im Original)

Ersichtlich passt die Beklagte durch verkürzte Wiedergabe der Kommissionsbegründung den weiten Ansatz der Kommission ihrer verengten Konzeption an. Man mag zwar eine enge Rechtsansicht vertreten. Nicht akzeptabel ist jedoch, bei der Auslegung der Entstehungsgeschichte durch Verzerrungen den Eindruck hervorzurufen, grundlegende Materialien im Rahmen der Entstehungsgeschichte stützten die eigene Auffassung. Vielmehr ist für die Kommission zunächst der subjektive Gewissenskonflikt Ausgangspunkt der Entscheidung. Der Verweigerer muss nachweisen, dass der Militärdienst seine Teilnahme an militärischen Aktionen erfordert, die er aufgrund echter und tief empfundener moralischer, religiöser oder politischer Überzeugung oder aus sonstigen berechtigten Gewissensgründen strikt ablehnt. Erleichtert wird ihm dieser Nachweis, wenn die betreffenden Aktionen den Grundregeln des menschlichen Verhaltens widersprechen und/oder von der Völkergemeinschaft verurteilt worden sind. Zwingend ist dies jedoch nicht, wie die Kommission ausdrücklich hervorhebt. Die weiteren Ausführungen sind hier nicht relevant, weil der Kläger sich für seine Desertion nicht auf die dort bezeichneten Umstände, sondern darauf beruft, dass er nicht in völkerrechtswidrige Verbrechen verwickelt werden wollte. Da die Kommission diese Gründe nur beispielhaft anführt, wird zugleich deutlich, dass es ihrer Ansicht nach zuallererst auf den subjektiven Gewissenskonflikt ankommt. Dieser muss gut begründet sein. Das bedeutet aber nicht, dass die die Gewissensentscheidung leitenden Gründe auch tatsächlich objektiv vorliegen müssen.

III. Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG

Der Kläger erfüllt nach seinen bisherigen Ausführungen und vorgebrachten Beweismitteln die Voraussetzungen des Verfolgungsbegriffs, insbesondere des Regelbeispiels des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG. Nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG stellt die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Militärdienstverweigerung eine Verfolgung dar, wenn der Antragsteller mit dem angeordneten Kriegsdienst zu Art. 12 Abs. 2 RL 2004/83/EG zuwiderlaufenden militärischen Einsätzen gezwungen würde oder für den Fall der Rückkehr hierzu gezwungen werden wird.

1. Drohende Verfolgung wegen Militärdienstverweigerung

a) Der Asylsuchende muss den Militärdienst verweigert haben oder darlegen, dass er im Falle der Rückkehr den Militärdienst verweigern wird und ihm deswegen Strafverfolgung oder Bestrafung droht. Am rechtlichen Ausgangspunkt steht die Furcht vor Verfolgung wegen der Desertion. Diese steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im Verwaltungsverfahren fest. Dass der Kläger wegen seiner Desertion bestraft werden wird, wird von der Beklagten im angefochtenen Bescheid nicht mehr in Zweifel gezogen. Dem im Verwaltungsverfahren zunächst erhobenen Einwand, der Kläger hätte durch einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nach den innerdienstlichen Verfahrensvorschriften die drohende Bestrafung abwenden können, wurden konkrete und sachbezogene Gegenvorstellungen entgegen gehalten (vgl. Schriftsatz vom 30. Juni 2010, S. 6 ff.). Im angefochtenen Bescheid wird an diesem Einwand nicht mehr festgehalten. Es steht damit fest, dass dem Kläger wegen seiner Desertion strafrechtliche Verfolgung und andere erhebliche Sanktionen drohen.

b) Nach der im Verwaltungsverfahren eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes ist von einer abgestuften Sanktion je nach Dauer der Abwesenheit von der militärischen Einheit, der Intention des Abwesenden und des Ermessens des Kommandeurs auszugehen. Sei ein Soldat mehr als 180 Tage von seiner Einheit und mit dem Ziel abwesend, einen potenziell gefährlichen Einsatz – wie zum Beispiel einen Kampfeinsatz im Irak - zu vermeiden, sei ein Kriegsgerichtsverfahren wegen Desertion wahrscheinlich.

Es ist evident, dass diese Voraussetzungen auf den Kläger zutreffen. Er ist inzwischen seit vier Jahren und drei Monaten von seiner Einheit abwesend. Die Publizität des Asylantrags des Klägers in der Öffentlichkeit, insbesondere auch in der Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten, die durch Presseberichte und Fernsehstationen über den Fall des Klägers informiert wurde, macht die Intention seiner Abwesenheit für die zuständigen militärischen Sanktionsorgane offensichtlich. In diesem Zusammenhang hat der Kläger in der Anhörung auch darauf hingewiesen, dass die US-Behörden bereits drei Tage nach seiner Meldung bei der Aufnahmeeinrichtung in Gießen über sein Asylgesuch in Deutschland und die hierfür maßgeblichen Motive informiert gewesen seien (Anhörungsniederschrift, S. 28). Es ist nach der eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes deshalb mit einem längeren Gefängnisaufenthalt und anschließender unehrenhafter Entlassung aus der Armee der Vereinigten Staaten zu rechnen. Bezüglich des Umfangs der Freiheitsstrafe ist nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes von fünfzehn Monaten auszugehen.

Die Freiheitsstrafe erfüllt offensichtlich die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung nach Art. 9 RL 2004/83/EG. Die „unehrenhafte Entlassung“ aus der Armee der Vereinigten Staaten erfüllt die Voraussetzungen des Regelbeispiels nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. b) RL 2004/83/EG. Denn es handelt sich hierbei um eine justizielle Maßnahme, die bereits als solche diskriminierend wirkt. Insoweit verweise ich zunächst auf den Vortrag des Antragstellers in der persönlichen Anhörung (Anhörungsniederschrift, S. 23, 25 und 28).

c) In diesem Zusammenhang hat der Kläger in der persönlichen Anhörung erklärt, Desertion sei angesichts des gesellschaftlichen Stellenwertes der Armee der Vereinigten Staaten in der Gesellschaft eine Sache, die das Leben verändere und einschränke. Es würde wie ein Kapitalverbrechen eingestuft, würde bei der Arbeitssuche offenkundig werden und eine erfolgreiche Arbeitssuche unmöglich machen. Auch im übrigen gesellschaftlichen Leben sei man gekennzeichnet. Wörtlich hat der Kläger erklärt: Ein „ganzes Leben bist du damit gezeichnet, dass du ein solches Verbrechen begangen hast“ (Anhörungsniederschrift, S. 28). Es liegen damit die Voraussetzungen einer Diskriminierungsmaßnahme im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. b) RL 2004/83/EG vor, weil diese zu Konsequenzen führen, welche den Betroffenen in hohem Maße benachteiligen, zum Beispiel die ärztliche Einschränkung des Rechts, den Lebensunterhalt zu verdienen oder die Verhinderung des Zugangs zu üblicherweise verfügbaren Bildungseinrichtungen (vgl. UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung von Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rdn. 54 f.).

Vorliegend sind sowohl die Freiheitsstrafe wie auch die unehrenhafte Entlassung aus der Armee der Vereinigten Staaten eine Folge, welche die Desertion des Antragstellers nach sich zieht. Es handelt sich damit unzweifelhaft um Verfolgungshandlungen im Sinne des Europarechtes.

d) Soweit in dem Auskunftsersuchen vom 20. Mai 2009 auf die jüngeren politischen Veränderungen in den Vereinigten Staaten Bezug genommen wird, verhält sich die eingeholte Auskunft zu dieser Frage nicht. Sie ist auch nicht relevant. Vielmehr ist zwischen den jeweiligen maßgeblichen zeitlichen Anknüpfungspunkten zu differenzieren (Schriftsatz vom 30. Juni 2010, S. 9):

Maßgeblich für die Frage, ob der Kläger ein strafbares Verhalten begangen hat, sind die Verhältnisse im Zeitpunkt April 2007, dem Zeitpunkt der Desertion. Maßgeblich für die Verfolgungsprognose ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG; § 77 Abs. 1 AsylVfG). Nach der eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes drohen dem Antragsteller derzeit eine längere Freiheitsstrafe sowie die „unehrenhafte Entlassung“ aus der Armee der Vereinigten Staaten. Der Hinweis auf die Alternative der freiwilligen Rückkehr zum Militär ist für den Antragsteller angesichts seiner glaubhaften gewissenbedingten Verweigerungsgründe unzumutbar und kann daher von ihm nicht in Anspruch genommen werden.

2. Begründete Furcht vor einer Verwicklung in Zuwiderhandlungen gegen humanitäres Völkerrecht

Der Kläger hegt auch eine begründete Furcht vor Verfolgung. Da er sich für seine Dienstverweigerung auf einen anerkannten Grund berufen kann, macht er nicht lediglich eine Furcht vor Strafverfolgung, sondern vor Verfolgung im Sinne der GFK geltend.

a) Die Richtlinie will Asylsuchende davor schützen, in einem Konflikt Militärdienst zu leisten, wenn in diesem Verbrechen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 RL 2004/83/EG begangen werden. Die Ratio von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG folgt damit aus der inneren Struktur der Richtlinie. Die Norm stellt den, der seine Weigerung, dem Einsatzbefehl Folge zu leisten, damit begründet, dass von den Streitkräften, in denen er den Dienst verrichten soll, in dem Einsatzgebiet Verbrechen der in Art. 12 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichneten Art begangen werden, den Flüchtlingsstatus zur Verfügung, sofern ihm die Flucht aus der Einheit gelingt. Während für den Ausschluss des Flüchtlingsschutzes jedoch schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigten müssen, dass der Asylsuchende ein derartiges Verbrechen begangen oder daran teilgenommen hat, reicht für die Statusgewährung die Darlegung aus, dass er den Militärdienst „in einem Konflikt verweigert“, wenn es in diesem zu solcherart Verbrechen kommt.

Es ist deshalb unerheblich, ob „die internationalen Truppen im Irak ständig oder gar systematisch gegen die Bestimmungen des humanitären Völkerrechts oder gewohnheitsrechtliche Regeln der Kriegführung verstoßen würden“ (Bescheid, S. 18 f.) oder ob es sich bei den bekannt gewordenen Zuwiderhandlungen gegen humanitäres Völkerrecht um „Einzelfälle“ handelt, wie im angefochtenen Bescheid behauptet wird (Bescheid, S. 18). Vielmehr ist maßgebend, ob der Verweigerer gute Gründe für seine Furcht bezeichnen kann, dass er im Falle der Befolgung des Einsatzbefehls möglicherweise in völkerstrafrechtswidrige Verbrechen verwickelt werden kann oder er nicht bereit ist, in einem Konflikt Militärdienst zu leisten, wenn es dort zu derartigen Verbrechen kommt. Im Übrigen ist es unzutreffend, dass es sich bei den bekannt gewordenen Zuwiderhandlungen der U.S.-amerikanischen Streitkräfte im Irak lediglich um „Einzelfälle“ gehandelt hatte (hierzu weiter unten).

b) Für die Nachweislast wird nicht notwendiger Weise vorausgesetzt, dass der Verweigerer selbst in derartige Verbrechen verwickelt werden wird. Vielmehr reicht es aus, dass er den Nachweis führen kann, dass in dem Konflikt, in dem er eingesetzt werden wird, derartige Verbrechen vorkommen und er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, an derartigen Einsätzen teilzunehmen. Es muss also nicht jenseits aller vernünftigen Zweifel feststehen, dass der Asylsuchende bei Befolgung des Einsatzbefehls in ein derartiges Verbrechen verwickelt worden wäre. Das Flüchtlingsrecht will dem Einzelnen präventiv Schutz davor gewähren, in eine Konfliktlage zu geraten, bei der es zur Begehung von derartigen Verbrechen kommt. Es ist also im Blick auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine Bewertung ex ante gefordert, ob die Möglichkeit bestand, dass der Verweigerer bei Befolgung des Einsatzbefehls in Verbrechen im Sine von Art. 1 A F GFK verwickelt werden könnte. Demgegenüber ist das Völkerstrafrecht repressiv, setzt also die Begehung eines solcherart Verbrechens voraus und bewertet ex post, ob jenseits vernünftiger Zweifel feststeht, dass der Einzelne hieran beteiligt war. Der an das Völkerstrafrecht anknüpfende Ausschlussgrund nach Art. 12 Abs. 2 RL 2004/83/EG lässt allerdings bereits schwerwiegende Gründe ausreichen, die eine entsprechende Annahme rechtfertigen.

Die britische Rechtsprechung hat sich ausdrücklich gegen eine spiegelbildliche Anwendung von Art. 12 Abs. 2 RL 2004/83/EG auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG ausgesprochen. Das mit dem Bundesgerichtshof vergleichbare zuständige britische Berufungsgericht hat ausgeführt, es stelle eine oberflächliche Betrachtungsweise dar, dass nur diejenigen berechtigt zur Schutzgewährung wären, die Asyl suchten, um dadurch die Begehung eines in Art. 1 F GFK (Art. 12 Abs. 2 RL 2004/83/EG) bezeichneten Verbrechens zu vermeiden. Für diesen Ansatz gebe es weder eine Begründung noch entspreche er der Ratio des Flüchtlingsrechts (Court of Appeal, (2008) EWCA Civ 540 = IJRL 2008, 469, Rdn. 39 – BE). Das völkerrechtliche Flüchtlingsrecht folgt anderen Grundsätzen als das völkerrechtliche Strafrecht.

aa) Der Schlüssel zum Verständnis des Flüchtlingsrechts ist nach Art. 1 A Nr. 2 GFK der Begriff der Verfolgungsfurcht im Flüchtlingsbegriff (s. hierzu UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Rdn. 37–65; Atle Grahl-Madsen, Annals 1983, 11 (13); Patricia Hyndman, The Australian Law Journal 1986, 148 (149), Robert C. Sexton, Vanderbuilt Journal of Transnational Law 1985, 731 (748); Theodore N. Cox, Brooklyn Journal of International Law 1984, 333). Die Qualifikationsrichtlinie enthält zwar keine ausdrückliche Vorschrift zur Behandlung des Begriffs der Verfolgungsfurcht, verweist indes in Art. 2 Buchst. c) auf den Begriff des Flüchtlings nach Art. 1 A Nr. 2 GFK, für dessen Auslegung und Anwendung der Begriff der Verfolgungsfurcht eine besondere Funktion hat. Darüber hinaus nimmt die Richtlinie in einzelnen Bestimmungen diesen Begriff in Bezug (z. B. Art. 5 Abs. 1 und 2, Art. 8 Abs. 1, Art. 11 Abs. 1 Buchst. d) und Abs. 2). Die Verfolgungshandlung nach Art. 9 RL 2004/83/EG ist deshalb stets im Zusammenhang mit dem Begriff der Verfolgungsfurcht zu sehen.

bb) Es kommt darauf an, ob der Asylsuchende eine begründete Furcht vor einer Verfolgung, wie sie in Art. 9 RL 2004/83/EG inhaltlich bestimmt wird, hat. Entsprechend der Staatenpraxis zur GFK und dem Zweck der GFK steht daher am Ausgangspunkt der Prüfung die Furcht vor Verfolgung (Art. 9 RL 2004/83/EG).

Der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 A Nr. 2 GFK war zu Beginn der Anwendung der Konvention in der Staatenpraxis wegen der Fixierung auf Flüchtlinge aus den kommunistischen Staaten des Ostblocks vorrangig subjektiv geprägt. Nach der Entstehungsgeschichte der Konvention ist offen, ob ihre Verfasser den liberalen Standard der Internationalen Flüchtlingsorganisation (IRO), der Vorläuferin der Konvention, beibehalten wollten (vgl. hierzu Cox, Brooklyn Journal of International Law 1984, S. 333 (349)). Nach dem IRO-Statut war die persönliche Darlegung der Fluchtgründe vorrangige Entscheidungsgrundlage. Dies reichte zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft aus; es sei denn, die Darlegung war nicht schlüssig.

Die Frage der Übernahme des IRO-Standards war insbesondere während der Beratungen im Ad hoc-Ausschuss ausführlich diskutiert worden. Der französische Delegierte wies darauf hin, dass das IRO-Statut während der durch den Krieg bedingten Psychose eilig verabschiedet worden sei, um Kriegsflüchtlingen schnell materielle Hilfe zukommen lassen zu können. Frankreich habe aber in Ansehung der Flüchtlingskonvention, welche in der Zukunft das IRO-Statut ersetzen sollte, die Vorstellung, dass Flüchtlinge in Zukunft unverzüglich vollständigen und effektiven internationalen Rechtsschutz erhalten sollten (Rain, U. N. Doc. E/AC.32/SR.5, 18. 1. 1950, S. 15). Der britische Delegierte äußerte demgegenüber die Ansicht, die IRO-Definion sei extrem kompliziert und erfordere sorgfältige Interpretationen. Seine Regierung befürworte daher eine einfache, leicht verständliche generelle Flüchtlingsdefinition (Brass, U. N. Doc. E/AC.32/SR.6, 19. 1. 1950, S. 3). Dem hielt der U. S.-Delegierte entgegen, dass das IRO-Statut zwar kein unantastbares Dokument sei. Es enthalte jedoch die umfassendste Auflistung von Flüchtlingsgruppen, welche sicherlich modifiziert werden könne. Sie könne in Abhängigkeit von der Schutzbedürftigkeit reduziert oder ausgeweitet werden (Brass, U. N. Doc. E/AC.32/SR.6, 19. 1. 1950, S. 3). Die Bevollmächtigtenkonferenz diskutierte nicht derart intensiv über den Begriff der Verfolgungsfurcht wie der Ausschuss. Der französische Delegierte wandte ein, das IRO-Statut habe sich ausdrücklich auf Flüchtlinge aufgrund des Krieges bezogen. Deshalb müsse die Flüchtlingskonzeption weiter entwickelt werden (Rochefort, U. N. Doc. A/CONF.2/SR.22, 16. 7. 1951, S. 15.). Dem pflichtete der Delegierte der Vereinigten Staaten bei. Die Generalversammlung habe empfohlen, dass die Konferenz einen sehr liberalen Begriff verabschiede, welche die größtmögliche weite Definition zur Folge habe (Warren, U. N. Doc. A/CONF.2/SR.22, 16. 7. 1951, S. 16).

Das IRO-Statut hatte in den Flüchtlingsbegriff jene eingeschlossen, die aus »stichhaltigen Gründen« einschließlich »Furcht, für die vernünftige Gründe der Verfolgung wegen der Rasse, Religion Nationalität oder politischen Überzeugung« sprechen, nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren konnten (Abschnitt C (1) Buchst. a) (i)). Das IRO-Statut schloss nur Personen ein, die bereits Verfolgung erlitten hatten. Demgegenüber war es die Aufgabe der Verfasser der Konvention einen Flüchtlingsbegriff zu entwickeln, der auch zukünftige Fälle von Verfolgung umfasst, sodass es auf eine gegenwärtige Furcht von Verfolgung ankommt (Hathaway, The Law of Refugee Status, 1991, S. 68). Dementsprechend wurde der Begriff „begründete Furcht vor Verfolgung“ gewählt, um dadurch sicherzustellen, dass jene, die gute Gründe dafür angeben können, dass sie Verfolgung befürchten, ebenso geschützt werden wie jene, die bereits in der Vergangenheit Opfer von Verfolgung gewesen waren (Ad hoc Committee on Statelessness and Related Problems, UN Doc. E/1618 und E/AC.32/5, S.39).

cc) Dem Begriff der „begründeten Verfolgungsfurcht“ wohnt damit eine in die Zukunft gerichtete Abschätzung von Verfolgungsrisiken inne. Dabei kommt es für die Risikoabschätzung auf die persönlichen Umstände des Antragstellers, z.B. auf seinen individuellen Hintergrund, Eigenschaften und Verhältnisse, an (s. auch Art. 4 Abs. 3 Buchst. c), Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG). Angesichts der Entstehungsgeschichte der GFK ist zwar das Urteil, die bloße Schlüssigkeits- bzw. Glaubwürdigkeitsprüfung des IRO-Statuts sei durch die GFK übernommen worden und schließe eine irgendwie geartete Wahrscheinlichkeitsprüfung aus, in dieser pauschalen Form nicht tragbar. Herzstück des Verfahrens nach der GFK ist aber gleichwohl die Aussage des Antragstellers (ebenso BVerwGE 71, 180 (181 f.) = NVwZ 1985, 685 = InfAuslR 1985, 244). Die Glaubhaftigkeit seiner Angaben soll nicht durch Widersprüche in nebensächlichen Aspekten in Frage gestellt werden (Hathaway, The Law of Refugee Status, 1991, S. 83–85). Da Furcht als subjektiver Tatbestand bei den einzelnen Personen unterschiedliche Ursachen hat und sich äußerlich kaum nachweisen lässt, wurde die Einführung eines objektivierenden Kriteriums für erforderlich erachtet, andererseits eine exakte Objektivität im Sinne eines allgemein gültigen Furcht-Niveaus für nicht realisierbar angesehen (Lieber, Die neuere Entwicklung des Asylrechts im Völkerrecht und Staatsrecht, 1973, S. 105).

Beruft der Antragsteller sich ausdrücklich auf eine Furcht vor Verfolgung und bezeichnet er hierfür die aus seiner Sicht maßgeblichen Gründe, sind diese zunächst aus seiner Sicht und nicht aus der eines „vernünftigen und besonnen denkenden Dritten“ (BVerwGE 88, 367 (378) = EZAR 202 Nr. 21 = NVwZ 1992, 578 = InfAuslR 1991, 363) zu beurteilen. Einem derartigen Ansatz hält das völkerrechtliche Schrifttum entgegen, damit werde das Konzept der begründeten Verfolgungsfurcht verfehlt (Grahl-Madsen, The Status of Refugees in International Law, Bd. 1, 1966, S. 181). Zunächst ist daher festzustellen, ob der Antragsteller Furcht vor Verfolgung geltend macht. Ausgehend hiervon ist anschließend den hierfür vorgebrachten Gründen nachzugehen. Von den Feststellungsbehörden wird nicht verlangt, ein Urteil über die Verhältnisse im Heimatstaat zu treffen. Andererseits sind die Erklärungen des Asylsuchenden nicht abstrakt, sondern im Zusammenhang mit der für diese maßgebenden Hintergrundsituation zu bewerten. Ob die den akuten Verfolgungsdruck auslösenden Tatsachen und Umstände geeignet waren, bei dem Antragsteller eine Furcht vor Verfolgung auszulösen, kann nur dieser und nicht ein fiktiver Dritter beurteilen.

dd) Die Bedeutung des Begriffs der Verfolgungsfurcht nach Art. 1 A Nr. 2 GFK kann danach dahin verstanden werden, dass es zuallererst Aufgabe des Antragstellers ist, schlüssig die für seine Verfolgungsfurcht maßgebenden Tatsachen vorzutragen. Da objektive Tatsachen aus dem individuellen Erlebnisbereich regelmäßig einer Überprüfung nur begrenzt zugänglich sind, fordert die Flüchtlingskonvention eine besondere Berücksichtigung des individuellen Tatsachenvortrags und fordert damit die Vertragsstaaten auf, im Blick auf die dargelegte Furcht des Antragstellers vor Verfolgung ein Wohlwollensgebot zu beachten. Dies bedeutet nicht, dass subjektive Überempfindlichkeiten die Rechtsfindung leiten sollen. Im Richtlinienentwurf wurde für die Verfolgung entsprechend dem völkerrechtlichen Ansatz auf die Furcht des Antragstellers abgestellt. Art. 11 Nr. 1 des Entwurfs bestimmte: (Es) „wird geprüft, ob objektiv eine begründete Furcht vor Verfolgung nachgewiesen werden kann“ (Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, KOM(2001) 510endg.; Ratsdok. 13620/01, in: BR-Drucks. 1017/01, S. 50). Zwar fehlt im endgültigen Wortlaut von Art. 9 der Richtlinie dieser Zusammenhang zwischen Furcht und Verfolgung. Dabei scheint es sich aber gegenüber dem Entwurf um lediglich eine andere redaktionelle Vorgehensweise zu handeln. Denn mit Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG werden ebenso wie im Art. 11 des Entwurfs die „individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers“ an den Ausgangspunkt der Prüfung gestellt.

Nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG sind Anträge auf internationalen Schutz individuell zu prüfen, wobei die »individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter« zu berücksichtigen sind, um bewerten zu können, ob »in Anbetracht seiner persönlichen Umstände« die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung gleichzusetzen sind (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG). Es bedarf keines Nachweises für die Angaben des Antragstellers, wenn er sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu substanziieren und festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen (Art. 4 Abs. 5 Buchst. a) und c) RL 2004/83/EG).

c) Der Kläger hat im Verwaltungsverfahren durch Vorlage einer Vielzahl von Beweismitteln Beweis geführt, dass die U.S.-Streitkräfte im Zeitpunkt seiner Desertion im April 2007 und davor eine Vielzahl von Kriegsverbrechen, insbesondere auch durch Verwendung von Kampfhubschraubern, begangen hatten, die Führung der Armee diese Verbrechen nicht wirksam strafrechtlich verfolgt hatte (Antragsbegründung, S. 11 bis 19, Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 14 bis 19; Schriftsatz vom 30. Juni 2010, S. 9 bis 15) und die Möglichkeit bestand, dass er durch seine Tätigkeit als Hubschraubermechaniker in derartige Verbrechen verwickelt hätte werden können. Die im angefochtenen Bescheid hiergegen vorgebrachten Einwände sind weder überzeugungskräftig noch plausibel.

aa) Die U.S.-amerikanischen Streitkräfte haben im Zeitpunkt der Desertion des Klägers im April 2007 und davor eine Vielzahl von Kriegsverbrechen begangen. Der Einwand der Beklagten, es habe sich um „Einzelfälle“ gehandelt, ist schon deshalb nicht überzeugend, weil er weder belegt wird noch eine Auseinandersetzung mit dem entsprechenden Sachvorbringen im Verwaltungsverfahren erfolgt.

Wie im Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 17 ff., dargelegt, haben sich nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. b) (iv) Rom-Statut die militärische Führung und die operativen Einheiten vor dem Einsatz jeweils Rechenschaft abzugeben, ob der vorgesehene Angriff zu Verlusten an Menschenleben und zur Verwundung von Zivilpersonen führen wird, die „eindeutig in keinem Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbarem militärischen Vorteil stehen“. Es wurden im Schriftsatz vom 10. Mai 2009 bezogen auf den Hubschrauber Apaché AH-64 konkrete Ausführungen dazu gemacht, dass bei einem Einsatz dieses Hubschraubers zur Bekämpfung terroristischer Gegner insbesondere in dicht besiedelten städtischen Gebieten nicht hinreichend sicher gewährleistet ist, dass die unbeteiligte Zivilbevölkerung nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Im Gegenteil, besteht angesichts der Streuweite der mittels dieses Hubschraubers eingesetzten Waffen für alle Beteiligten vorhersehbar insbesondere in städtischen Gebieten eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass es zu hohen Verlusten unter der unbeteiligten Zivilbevölkerung und damit zu Kriegsverbrechen kommen wird.

Insbesondere die Vorfälle im November 2004 in Fallujah sind ein Musterbeispiel für die Art der Kriegführung im Zeitraum, in dem der Kläger erstmals im Irak eingesetzt war. Der Feldzug gegen Fallujah im April und November 2004 wird als das mit Abstand größte Verbrechen der U.S.-Truppen im Irak bezeichnet. Viele sprachen von einem „irakischen Guernica“ (Asia Times vom 2. Dezember 2004). Die von der Beklagten im Verwaltungsverfahren und erneut im angefochtenen Bescheid (S. 18) aufgeworfenen Fragen nach der Anzahl der Zivilpersonen, die im Zusammenhang mit den bewaffneten Einsätzen der Koalitionsstreitkräfte in den jeweiligen Konfliktphasen zu Tode gekommen sind, bedarf für die Entscheidung im vorliegenden Fall keiner Beantwortung, da es im Rahmen des nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes maßgeblichen Art. 8 Abs. 2 Buchst. b) (iv) Rom-Statut – wie im Übrigen auch nach § 11 VStGB - auf eine systematische Praxis der Verletzung humanitären Völkerrechtes nicht ankommt.

Wie insbesondere im Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 16 ff., im Einzelnen ausgeführt, wurden Apaché AH-64 Hubschrauber im Jahre 2007 zunehmend gegen Personen und Gebäude eingesetzt, ohne dass die Besatzung Kenntnisse darüber hatte, wer sich in den Gebäuden befunden hatte. Das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht fordert jedoch, dass Angriffe gegen militärische Ziele, die innerhalb von Gebieten, in denen überwiegend Zivilbevölkerung lebt, soweit wie möglich unterbleiben. Die Anwesenheit einzelner Kombattanten innerhalb einer Vielzahl von Zivilpersonen verändert nicht den zivilen Charakter eines Gebiets (UN Assistance Mission for Iraq – 30. June 2007, S. 9). Wie im Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 16/17, im Einzelnen ausgeführt, wurden 2007 bei Luftangriffen im Irak zunehmend Zivilpersonen getötet. Bereits die Vielzahl ziviler Opfer ist ein gewichtiges Indiz dafür, dass die Einsätze humanitären Rechtsregeln zuwiderliefen.

Nach dem im Verwaltungsverfahren vorgelegten Bericht „War and Occupation in Iraq“ des Global Policy Forum vom Januar 2007 haben die multinationalen Streitkräfte im Irak seit Beginn des Krieges unangemessene Gewalt bei ihren Angriffen auf irakische Städte angewandt. Massive Bombardements aus der Luft und durch Bodentruppen hätten zu tausenden von Vertriebenen und zahllosen Opfern unter der Zivilbevölkerung geführt. Dabei seien tausende von Häusern, Geschäften, Moscheen, Krankenhäusern und Schulen zerstört worden. Die größte Gruppe der Getöteten hätten Kinder dargestellt. Die massiven Bombenangriffe hätten zu erheblichen Zerstörungen in den Städten einschließlich historischer und religiöser Gedenkstätten, Strom- und Wasserversorgungsanlagen sowie Abwasseranlagen geführt. Die Strategie wahlloser und massiver Bombardements zur Vorbereitung von Landoffensiven hätten erhebliche Opfer unter der Zivilbevölkerung mit sich gebracht. Luftangriffe hätten typischerweise wahllosen Charakter. Während die multinationalen Streitkräfte behaupteten, dass die meisten Getöteten Männer im wehrfähigen Alter gewesen seien, hätten vertrauenswürdige Berichte bestätigt, dass es sich bei der Mehrzahl der Getöteten um Nichtkombattanten gehandelt habe.

Nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. a (iv) Rom-Statut stellt die Zerstörung von Eigentum größeren Ausmaßes, die nicht durch militärische Erfordernisse gerechtfertigt ist, ein Kriegsverbrechen dar. Nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. b (ii) des Statuts erfüllen vorsätzliche Angriffe auf zivile Objekte ebenfalls den Tatbestand eines Kriegsverbrechens. Die Vertreibung der Zivilbevölkerung, welche Folge der Ankündigung der multinationalen Streitkräfte eines Angriffs auf Städte war und gezielt herbeigeführt wurde, erfüllt den Tatbestand des Kriegsverbrechens nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. a) (vi) Rom-Statut, der vorsätzliche Angriff auf die unbeteiligte Zivilbevölkerung den eines Kriegsverbrechen nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. b) (i) Rom-Statut. Kampfhubschrauber waren an diesen Kriegsverbrechen beteiligt, wie aus dem erwähnten Bericht hervorgeht.

In den Gesamtkontext der „systematischen Praxis, im Zuge militärischer Operationen zur Verfolgung militärischer Ziele ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung unterschiedslos und unverhältnismäßig Waffen einzusetzen“ (Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 17), fügt sich der im Schriftsatz vom 30. Juni 2010, S. 13) geschilderte Vorfall ein. Wird dieser Bericht im Zusammenhang mit den bereits vorgelegten Berichten bewertet, ist offensichtlich, dass durch den Einsatz der Apaché-Hubschrauber in einer Vielzahl von Fällen Kriegsverbrechen begangen wurden, und zwar in dem Einsatzgebiet und zu dem Zeitpunkt, in dem der Kläger im Irak bzw. zu dem seine Verwendung im Irak vorgesehen war.

Im Zeitpunkt der Desertion des Klägers bestand darüber hinaus die Wahrscheinlichkeit, dass die Zahl der von US-amerikanischen Streitkräften begangenen Kriegsverbrechen in der Zukunft zunehmen werde. Der damalige Präsident der Vereinigten Staaten hatte in einer Rede vor dem World Affairs Council of Western Michigan am 20. April 2007 angekündigt, zusätzliche Streitkräfte in den Irak zu entsenden.

Beweis:Rede des US-Präsidenten vor dem World Affairs Council of Western Michigan am 20. April 20007, in: AG Friedensforschung.

In Bagdad gebe es die meisten Unruhen. Dort werde der Hauptteil der zusätzlichen Truppen stationiert. Von gemeinsamen Sicherheitsstellen aus sollten irakische und U.S.-amerikanische Streitkräfte gemeinsam die Stadtviertel räumen und sichern. Angesichts der bis dahin bekannt gewordenen Vielzahl von Kriegsverbrechen bestand damit eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich im Rahmen der vom Präsidenten als „neue Strategie“ verkündeten Verstärkung der Truppenpräsenz auch die Zahl der Kriegsverbrechen erhöhen werde. Ferner bestand eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass bei den Einsätzen in Bagdad – wie auch in der Vergangenheit – Kampfhubschrauber zur Unterstützung eingesetzt werden würden.

bb) Der von der Beklagten erhobene Einwand, eine konkrete Gefahr für den Kläger, bei Fortsetzung seines Dienstverhältnisses in Kriegsverbrechen verwickelt zu werden, habe auch deswegen nicht bestanden, „weil die amerikanischen Streitkräfte Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht nicht tolerieren und schon gar nicht fördern“ (Bescheid, S. 20), ist schon deshalb nicht überzeugend, weil insoweit eine Auseinandersetzung mit dem konkreten Sachvorbringen des Klägers unterbleibt.

Bereits im Verwaltungsverfahren hatte das Bundesamt die Frage nach der wirksamen Verfolgung von Kriegsverbrechen aufgeworfen. Hierzu wurde mit Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 15/16, und erneut mit Schriftsatz vom 30. Juni 2010, S. 11, Stellung genommen. Besonders deutlich und beispielhaft wird die fehlende wirksame Ahndung von Kriegsverbrechen anhand des bezeichneten Vorfalls des Journalisten von Reuters. Anstelle der straf- und disziplinarrechtlichen Verfolgung der verantwortlichen Soldaten sucht das Verteidigungsministerium nach der Quelle in den eigenen Reihen, welche das Material Wikileaks zugespielt haben könnte. Anstelle der Durchführung wirksamer Untersuchungen wird zunächst das Video unter Verschluss gehalten und nach außen bekundet, dass es sich um Kollateralschäden handele.

Die eingeführten Beweismaterialien belegen damit, dass die US-Behörden im Zeitpunkt der Desertion des Klägers und davor auf die Begehung von Kriegsverbrechen abzielende Vorwürfe irakischer Stellen regelmäßig verneint, bei erdrückender Beweislast zugesichert hatten, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, jedoch untätig blieben (s. hierzu insbesondere Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 16/17). Die „Rules of Engagement for Iraq“ mögen theoretisch auf das bestehende Völkerrecht hinweisen, wurden in der Praxis jedoch in einer Weise angewandt, dass Kriegsverbrechen nicht geahndet wurden. Der Europäische Gerichtshof fordert in diesem Zusammenhang, dass die Feststellungsbehörden nicht – wie im angefochtene Bescheid auf S. 20 - lediglich die bestehenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften in den Blick nehmen dürfen, sondern insbesondere die Weise, in der sie angewandt werden, ins Auge zu fassen haben (EuGH, InfAuslR 2010, 188 (190) = NVwZ 2010, 505 = AuAS 2010, 150 Rn 71 – Abdullah).

In der Veröffentlichung „Winter Soldier – Iraq and Afghanistan“, von „Iraq Veterans Against the War“, 2008, (s. Anlage) wird über eine Vielzahl von Aussagen von U.S.-Soldaten berichtet, die sich darüber beschwert hatten, dass sie zwar über die Rules of Engagement in Kenntnis gesetzt worden seien, diese jedoch nach dem Sturz des Saddam Hussein-Regimes erheblich gelockert worden seien. Jede irakische Zivilperson sei als „potenzieller Aufständischer“ angesehen worden. Zwar hätten die Rules of Engagement die Soldaten dazu verpflichtet, erst eine „feindliche Aktion“ oder eine „feindliche Absicht“ festzustellen, bevor sie die Schusswaffe benutzten. Nach den zahlreichen vorgelegten Aussagen von Soldaten hätten die Einsatzführer diese Vorschriften jedoch sehr nachlässig interpretiert. Krankenhäuser, Moscheen, Schulen und historische Denkmäler seien angegriffen worden. Schießereien auf Unschuldige an Kontrollstellen und im Rahmen von Hausrazzien seien üblich gewesen. Von 2003 bis 2007 seien im Zusammenhang mit Tötungen von irakischen Zivilpersonen lediglich 31 Soldaten angeklagt worden, lediglich zwölf seien zu Freiheitsstrafen verurteilt worden, neun von diesen seien Offiziere gewesen. Die American Civil Liberties Union habe im September 2007 über zehntausend Seiten umfassende, als U.S.-Army-Dokumente klassifizierte Materialien erhalten. Danach seien in Kriegsgerichtsverfahren die Begriffe „feindliche Aktion“ oder „feindliche Absicht“ derart weit interpretiert worden, dass nahezu jede Verhaltensweise einer irakischen Zivilperson als Rechtfertigung für den Einsatz von Waffen hätten gewertet werden können.

cc) Unzutreffend geht die Beklagte davon aus, der Kläger habe sich als Hubschraubermechaniker nicht nach dem Völkerrecht strafbar machen können (Bescheid, S. 17). Dieser Einwand entbehrt bereits deshalb jeglicher Schlüssigkeit, weil er sich mit dem entgegenstehenden Sachvorbringen des Klägers nicht auseinandersetzt.

Der Kläger war als verantwortlicher „Romeo“ für die Wartung von Hubschraubern des Typs Apaché AH-64 zuständig. Wäre er im April 2007 nicht desertiert, sondern hätte er dem Einsatzbefehl Folge geleistet und weiterhin Hubschrauber des Typs Apaché AH-64 gewartet, hätte eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür bestanden, dass er in Kriegsverbrechen verwickelt worden wäre. Der Kläger befand sich damit im Zeitpunkt seiner Desertion in einer vom Unionsrecht anerkannten schutzwürdigen ausweglosen Lage und ist ihm deshalb der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

Für die Bewertung der Schutzbedürftigkeit des Klägers ist von dem nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts maßgebenden Art. 25 Abs. 3 Buchst. c) Rom-Statut auszugehen. Danach ist für die Begehung eines Kriegsverbrechens individuell verantwortlich, wer zu dessen Erleichterung „Beihilfe oder sonstige Unterstützung bei seiner Begehung oder seiner versuchten Begehung leistet, einschließlich der Bereitstellung der Mittel für die Begehung“ (vgl. Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 21). Gegen den Einwand der Beklagten, eine „Mitverantwortung“ im völkerstrafrechtlichen Sinne scheide aus (Bescheid, S. 18), ist nichts zu erinnern. Andererseits wird aber eingeräumt, die vom Kläger befürchtete Beteiligung und Mitverantwortung könnte sich bereits im Sinne einer conditio-sine-qua-non aus seinem konkreten militärischen Aufgabenbereich folgern lassen. Für die Nachweislast im flüchtlingsrechtlichen Sinne ist dies ausreichend.

Wer als Soldat Kampfhubschrauber in gesamtverantwortlicher Wartungsfunktion („Romeo“) „fit für den Einsatz zwölf Stunden am Tag und sechs Tage in der Woche machen muss“, nach sorgfältigen und intensiven Recherchen über Internet sichere Kenntnisse darüber erworben hat (vgl. auch § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB), dass aus diesen Hubschraubern in dicht besiedelten städtischen Gebieten Raketen und andere unterschiedslos wirkende Waffen eingesetzt werden, dass in Fallujah im November 2004 mit Hilfe dieser Kampfhubschrauber massive Kriegsverbrechen und auch in der Folgezeit derartige Verbrechen begangen wurden, muss damit rechnen, dass er in der Gefahr steht, ein Kriegsverbrechen zu begehen, weil die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, dass er „sonstige Unterstützung zu derartigen Verbrechen leistet und für diese die erforderlichen Mittel bereitstellt.“ Im Zeitpunkt der Desertion musste der Kläger damit rechnen, dass er durch seine Wartungstätigkeiten wahrscheinlich erneut in derartige Kriegsverbrechen verwickelt werden würde:

Die ihm gegebenen Zusicherungen, dass sein Bataillon nicht erneut im Irak eingesetzt werden würde, waren aufgrund der neuen Strategie des Präsidenten im Irak nicht eingehalten worden. Der Präsident hatte angekündigt, dass insbesondere in Bagdad zusätzliche Brigaden eingesetzt und die irakische und U.S.-amerikanische Armee Seite an Seite Stadtviertel räumen werden würden. Aufgrund der vom Kläger durchgeführten Recherchen über die Kriegsmethoden in der Vergangenheit musste er davon ausgehen, dass es im Rahmen der neuen Strategie zu einer Zunahme von Kriegsverbrechen kommen und dabei der Einsatz von Kampfhubschraubern eine erhebliche militärische Funktion übernehmen würde. Die nachträglichen Entwicklungen haben im Übrigen die Befürchtungen des Klägers bestätigt. Rechtlich relevant ist aber allein, dass er im Zeitpunkt seiner Desertion mit der Möglichkeit rechnen musste, dass er durch Wartungsarbeiten in Kriegsverbrechen hätte hineingezogen werden können.

Maßgebend für die Darlegungslast ist die Glaubhaftmachung eines ernsthaften Gewissenskonfliktes des Klägers im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG. Der Kläger ist nicht gehalten, nach den Beweisregeln „jenseits aller vernünftigen Zweifel“ einen Gewissenskonflikt darzulegen, sondern glaubhaft zu machen, dass er aufgrund der ihm verfügbaren Informationen möglicherweise an militärischen Angriffen beteiligt worden wäre, bei denen erwartet werden konnte, dass diese die Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen in einem Ausmaße verursachen würden, das außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stand. Dabei muss der Kläger nicht wie ein Strafrichter nachträglich Beweis führen, dass die damals aus seiner Sicht bevorstehenden militärischen Einsätze Völkerrecht verletzen werden, sondern gute Gründe bezeichnen, dass er aus seiner Sicht im April 2007 davon ausgehen konnte, dass es möglicherweise zu Verletzungen humanitären Rechts kommen würde. Angesichts der Vielzahl der geschilderten Kriegsverbrechen, die insbesondere unter Einsatz des Kampfhubschraubers Apaché AH-64 verübt wurden, hatte der Kläger gute Gründe für eine derartige Furcht.

Soweit die Beklagte einwendet, die Befürchtungen des Klägers, dass die von ihm betreuten Hubschrauber durch ihre Besatzungen zu konkreten Kriegsverbrechen eingesetzt werden könnten, beruhten auf Vermutungen bzw. stellten lediglich hypothetische Möglichkeiten dar (Bescheid, S. 17), wird erneut entgegenstehendes Sachvorbringen des Klägers nicht berücksichtigt. Nach den Erklärungen des Klägers im Verwaltungsverfahren sind Apaché-Hubschrauber seiner Einheit im November 2004 in Fallujah eingesetzt worden. Zum damaligen Zeitpunkt hatte er über die Tatsache, dass es dabei zu Kriegsverbrechen gekommen war, jedoch keine Kenntnis gehabt. Erst im Rahmen seiner nachträglichen Internetrecherchen hatte er hiervon Kenntnis erlangt (Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 16). Ferner wurde im Verwaltungsverfahren der Bericht von Rau und Parker vom 1. April 2008, der einen Schwerpunkt auf diesen Kampfhubschrauber legt, eingeführt (Schriftsatz vom 10. Mai 2009, S. 16 ff). Danach wurden die Hubschrauber, die nach ihrer Kampfausrüstung nur dafür geeignet sind, gegen Fahrzeuge und vergleichbare militärische Objekte verwendet zu werden, zunehmend gegen Personen und Gebäude eingesetzt, ohne dass die Besatzung Kenntnis darüber hatte, wer sich in den Gebäuden befand. Im Jahre 2007 wurden 596 Lufteinsätze im Irak geflogen, bei denen 417 Personen getötet wurden. In den ersten beiden Monaten des Jahres 2008 war die Einsatzzahl erhöht worden. Im Oktober 2007 hatte ein Luftangriff nordwestlich von Bagdad den Tod von neun Frauen und sechs Kindern zur Folge. Wenig später wurden bei einem Luftangriff in Sadr City in Bagdad 15 unbeteiligte Zivilpersonen getötet und 52 verwundet, darunter Frauen und Kinder. Einen Tag später wurden bei einem Luftangriff auf ein Gebäude im Norden Bagdads fünf Frauen und ein Kind getötet. Am 2. Februar 2008 wurden bei einem Lufteinsatz nahe Iskandariyah neun Zivilpersonen getötet. Ende Februar 2008 hatten Helikopter das Feuer auf ein Haus in Zab im Norden Iraks eröffnet. Dabei kamen acht Zivilpersonen, fünf davon Kinder derselben Familie, ums Leben.

Der Kläger hat nach alledem eine Vielzahl von guten (objektiven) Gründen für seinen subjektiven Gewissenskonflikt bezeichnet, dass der von ihm konkret geforderte Militärdienst seine Teilnahme an militärischen Aktionen erforderte, die er aufgrund echter und tief empfundener moralischer Überzeugung strikt ablehnt. Der nur auf einen eng begrenzten Zeitraum beschränkte vorstehende Überblick belegt, dass im Zeitpunkt der Desertion des Klägers gewichtige Indizien dafür sprachen, dass die U.S.-amerikanischen Streitkräfte in Kriegsverbrechen verwickelt waren. Insbesondere der Einsatz von Kampfhubschraubern, die für den Einsatz auf Personen wegen der Streuweite ihrer tödlichen Waffen aufgrund des völkerrechtlichen Unterscheidungsgebotes nicht geeignet sind, stellt ein schwerwiegendes Indiz dar, dass die militärische Führung bewusst und gezielt Kriegswaffen eingesetzt und Kriegsmethoden gewählt hat, die zur Begehung von Kriegsverbrechen führen mussten. Angesichts dessen kann vom Kläger entgegen der Auffassung der Beklagten (Bescheid, S. 15) nicht verlangt werden, darzulegen, dass ihm bei früheren Einsätzen angesonnen worden wäre, sich an Kriegsverbrechen zu beteiligen. Es spricht aber eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger gewartete Kampfhubschrauber im Rahmen der den von den U.S.-amerikanischen Streitkräften im November 2004 in Fallujah begangenen Kriegsverbrechen verwendet wurden. Wie ausgeführt, war dies dem Kläger im Zeitpunkt seines ersten Einsatzes im Irak nicht bewusst. Nach den nachträglich durchgeführten Recherchen hatte er jedoch gute Gründe für die Befürchtung, dass er bei einem weiteren Einsatz im Irak, erneut in derartige Kriegsverbrechen verwickelt worden wäre. Der Kläger kann damit fundierte, vom Völkerrecht anerkannte Gründe für seine Desertion geltend machen.


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Dr. Reinhard Marx: Klagebegründung in der Verwaltungsstreitsache André Shepherd gegen Bundesrepublik Deutschland M 25 K 11.30288. 20. Juli 2011, Teil I

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