Türkei: Freikaufsregelung, Ausbürgerung, Ausmusterung und Asyl

Eine Übersicht

von Connection e.V.

(06.02.2024) Alle männlichen türkischen Staatsbürger unterliegen der Militärdienstpflicht, die in der Türkei unbefristet gilt, auch wenn der Gesetzestext das Militärdienstalter von 20 bis 41 Jahre begrenzt (Art.3a) (1). Oft ist ihnen nicht bekannt, welche Möglichkeiten es gibt, sich der Ableistung des Militärdienstes zu entziehen. Hier wollen wir den aktuellen Stand von 2024 darstellen. Die Freikaufs- und Zurückstellungsbedingungen unterscheiden sich, je nachdem, ob man in Türkei lebt oder Ausland.

„Die Beobachtungsstelle Kriegsdienstverweigerung (vicdaniretizleme) fordert die rechtliche Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung in der Türkei. Sie dokumentiert und überwacht Rechtsverletzungen, denen Kriegsdienstverweigerer aufgrund fehlender Regelungen ausgesetzt sind und unterstützt die Betroffenen.“ https://de.connection-ev.org/article-3796

„Vicdani Ret Izleme Türkiye’de vicdani reddin yasal olarak tanınması için çağrıda bulunuyor. Yasal düzenlemelerin eksikliği nedeniyle vicdani retçilerin maruz kaldığı yasal ihlalleri belgeliyor, izliyor ve bu ihlallerden etkilenenlere destek oluyor.“

Türkische Staatsbürger in der Türkei

Zurückstellung – erteleme

Bei einem Studium kann bis zur Vollendung des 32. Lebensjahres eine Zurückstellung beantragt werden: Gymnasiasten bis 22, Hochschulabsolventen bis 25, Masterstudenten bis 28 und Doktoranden bis 32. Aktive Sportler, Künstler oder andere berufliche Spezialisten z.B. Ärzte und Zahnärzte bis 35. Einberufungspflichtige Personen müssen bis zum 31. Dezember eine Zurückstellung beantragen bei e-Devlet oder bei der persönlich nächstgelegenen Militärdienststelle. ( Art.20 Abs 3) (1)

Ersatzzahlung – bedelli askerlik

Artikel 9 (1) definiert unter der Bezeichnung "Bezahlter Militärdienst" die Regelungen für türkische militärdienstpflichtige Staatsbürger, die in der Türkei leben. So kann die Dauer des Militärdienstes von regulär mindestens 6 Monaten (als Gefreiter) auf 1 Monat verkürzt werden. (2) Dafür muss ein Antrag bei e-Devlet oder bei der nächstgelegenen Militärdienststelle gestellt werden.  Die Summe muss zwei Monate nach Antragstellung komplett überwiesen werden. Der Betrag wird halbjährig an ein Beamtenjahresgehalt angepasst und beträgt vom 01.01.2024 – 01.07.2024 182,608,92 TL oder 5.600 Euro. (https://www.hurriyet.com.tr/bilgi/galeri-bedelli-askerlik-ucreti-2024-aciklandi-bedelli-askerlik-ucreti-ne-kadar-oldu-kac-tl-hangi-bankalara-para-yatirilir-msb-duyurdu-423869879) (3)  Die Höchstzahl der Personen, die diese Möglichkeit nutzen können, wird vom Verteidigungsministerium zuvor bekannt gegeben. Gibt es mehr Bewerber als freie Plätze, folgt ein Lotterieverfahren.

Deserteure und Militärdienstpflichtige, die sich der Rekrutierung entziehen, können die Möglichkeit der Ersatzzahlung nicht in Anspruch nehmen.

Sich der Pflicht entziehen oder Desertieren – yoklama kaçağı, sakli ve bakayalar

Bestraft wird, wer zu spät seinen Dienst ableistet, wer desertiert oder untertaucht. (Abs24) (1)

Wer der Einberufung nicht nachkommt und kontrolliert wird, wird dazu aufgefordert, innerhalb von 15 Tagen seinen Status zu klären. (Art.36 Abs 2) (1) Dann werden sich addierende Geldstrafen verhängt, soziale Rechte (Freiheits- und Arbeitsrechte) werden eingeschränkt und es kann zur Inhaftierung kommen.

Es können Strafverfahren gegen eine Person eingeleitet werden und unbegrenzt viele Urteile erfolgen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seinem Urteil „Ülke gegen die Türkei“ den psychischen Druck, möglichweise wiederholt verfolgt, verurteilt und bestraft zu werden sowie das ständige Risiko, bestraft zu werden, als Ausgangspunkt für die Definition des „zivilen Todes“ herangezogen. (4)

Eine ausführliche Auskunft dazu und Erfahrungen von Betroffenen ist in der Vicdani Ret Izleme Broschüre vom Mai 2023 zu finden.  (5)

Vicdani Ret Izleme bietet Beratung auf Türkisch an:

https://vicdaniret.org/

Ausmusterung im In - und Ausland - askerliğe elverişli olmayanlar yurtiçinde ve yurtdışında

Die Einstufung zur Militärdiensttauglichkeit erfolgt nur in vom Ministerium ausgesuchten Gesundheitseinrichtungen. (Art. 15 Abs 5) (1). Die Entscheidung muss vom Ministerium anerkannt werden. Gegen die medizinische Entscheidung kann Einspruch erhoben werden, was zu einer erneuten Untersuchung führt. (Art. 17) (1)

Untersuchungen von Militärdienstpflichtigen im Ausland werden ausschließlich von der Gesundheitsbehörde des Verteidigungsministeriums in der Türkei durchgeführt. (Art. 15 Abs. 7) (1)

Die Erfahrung zeigt, dass eine Ausmusterung bei im Ausland lebenden türkischen Staatsangehörigen in aller Regel nicht vorgenommen wird.

Man kann in Deutschland im türkischen Konsulat einen Antrag auf Ausmusterung stellen, wenn man glaubt, dass man aus gesundheitlichen Gründen für die Armee „untauglich“ ist. Dafür benötigt man einschlägige medizinische Atteste von Ärzten, die von den türkischen Behörden anerkannt werden. Die türkischen Konsulate haben eine Liste dieser Ärzte vorliegen. Die Atteste und alle weiteren relevanten Dokumente müssen in beglaubigten türkischen Übersetzungen vorliegen. Der Antrag wird zuerst vom Konsulat geprüft und dann an die zentrale Gesundheitsbehörde des Nationalen Verteidigungsministeriums weitergeleitet und dort entschieden.

Türkische Staatsbürger im Ausland

Zurückstellung - yurtdışı askerlik erteleme

Wer auf Dauer im Ausland lebt, seit 3 Jahren eine Arbeitserlaubnis hat, oder Doppelstaater ist, hat bis zum 35. Lebensjahr die Möglichkeit, eine Zurückstellung zu beantragen. (Art. 38 Abs. 1 ) (1). Für Studenten gelten die gleichen Zurückstellungsbedingungen wie für türkische Staatsbürger in der Türkei.

Wer Asyl erhalten hat, geflüchtet ist oder illegal arbeitet, kann keine Zurückstellung beantragen. Durch einen positiven Asylbescheid erlischt die türkische Staatsangehörigkeit jedoch nicht und die Militärdienstpflicht bleibt bestehen.

Die genauen Bedingungen und den online Antrag auf Zurückstellung finden Sie hier: (6) https://www.konsolosluk.gov.tr/Procedure/ShowProcedure/5

Freikaufregelung – dövizle askerlik

Wer mehr als 3 Jahre im Ausland gearbeitet hat, oder Doppelstaater ist, hat die Möglichkeit seinen Militärdienst durch eine Zahlung zu erfüllen. Der Betrag (182,608,92 TL oder 5600 Euro) ist einmalig und vor der Antragstellung auf Freikauf zu überweisen. (Art.39 Abs. I ) (1)

Dazu erfolgt ein Onlineunterricht, der abgeschlossen werden muss. Dann erhält man eine Entlassungsbescheinigung (Kesin terhis belgesi), die als Nachweis gilt, dass die Militärdienstpflicht erfüllt wurde. Der einmonatige verkürzte Militärdienst fällt weg.

Die Altersgrenze von 38 Jahren wurde aufgehoben, ein Antrag ist auch danach möglich. (7)

Es gibt keinen Anspruch auf die Freikaufregelung, wenn der Betrag nicht in Fremdwährung überwiesen wird, bereits ein anderer Militärdienst in der Türkei angefangen wurde, Gehälter aus der Türkei bezogen werden, oder Asyl genehmigt wurde. (Art. 39 Abs. 3) (1)

Wenn Ihr Antrag auf Freikauf abgelehnt wurde, sind Rückerstattungen möglich. (Art. 39 Abs. 4) (1)

Das Geld wird auf das Konto des zentralen Schatzamtes des Finanzministeriums überwiesen. (Art. 39 Abs. 11) (1)

Wer ausgeschlossen wird von der Freikaufregelung, weil er nicht gezahlt hat oder mehr als 184 Tage in einem Jahr in der Türkei war, soll sich bis 31.12.25 bei der Militärbehörde melden und innerhalb von 10 Tagen nach Antragstellung bezahlen. Dann gilt der Dienst als abgeleistet. Wer zu wenig überwiesen hat, muss innerhalb von 10 Tagen nachzahlen, wer zu viel bezahlt hat, kriegt nichts zurück. (Vorläufiger Abs. 2) (1)   

Ausbürgerung - vatandaşlıktan çıkarma

Die Bundesregierung hat sich am 19.01.2024 auf ein neues Einbürgerungsgesetz geeinigt, welches im Frühjahr 2024 (April/Mai) in Kraft treten wird. Unter anderem hat man dann die Möglichkeit, die doppelte Staatsbürgerschaft zu beantragen.

Daher wird die Türkei nun keine Ausbürgerungen mehr für türkische Staatsbürger in Deutschland durchführen. (8)

Sich der Pflicht entziehen im Ausland – yurtdışı yoklama kaçağı ve sakli

Wenn bezüglich der Zurückstellung des Militärdienstes nichts unternommen wird, sollte die Einreise in die Türkei vermieden werden. Für die türkischen Behörden ist auch eine evtl. zweite Staatsangehörigkeit irrelevant: Sie würden dort wie ein Fahnenflüchtiger behandelt und der Rekrutierungsbehörde überstellt. Auch wenn die doppelte Staatsangehörigkeit seitens des deutschen Staates akzeptiert wird, sollten Sie nicht davon ausgehen, dass das deutsche Konsulat sich einsetzen würde, um Ihre Zwangsrekrutierung zu verhindern.

Es gelten die gleichen Strafen wie für Militärdienstentzieher im Inland.

Stellen türkische Behörden bei Militärdienstentziehung im Ausland einen Reisepass aus? – Türk Devlet yurtdışı yoklama kaçağına pasaport veriyor mu?

Wenn Sie keine deutsche Staatsangehörigkeit, sondern lediglich einen Aufenthaltstitel haben, ist dieser an ein gültiges Ausweisdokument gebunden. Nach § 52 Abs. 1 Nr. 1 des deutschen AufenthG kann der Aufenthaltstitel widerrufen werden, wenn Sie keinen gültigen Pass oder Passersatz mehr haben.

Stellt sich die Frage, ob die Türkei bei Militärdienstentziehung im Ausland einen Reisepass ausstellt.

Die Türkei hat im Mai 2011 das Passgesetz geändert. Danach wird nach Artikel 15 Absatz 6 des Reisepassgesetzes Nr. 5682 weder in der Türkei noch bei den Auslandsvertretungen bei der Ausstellung eines neuen elektronischen Passes ein Zusammenhang mit der Ableistung des Militärdienstes oder eines Nachweises zum Militärdienst hergestellt. In der Praxis bedeutet dies, dass Sie einen Reisepass erhalten, obwohl Sie der Militärdienstpflicht nicht nachgekommen sind. Berichte von Betroffenen bestätigen dies.

Zu bedenken ist allerdings, dass bei einer Einreise in die Türkei weiterhin die Einberufung droht.

Ist ein Asylantrag möglich? – Iltica imkani var mi?

Für türkische Wehrpflichtige, die keinen Aufenthaltstitel in Deutschland haben, kann die Asylantragstellung eine Möglichkeit darstellen, um der Militärdienstpflicht in der Türkei zu entgehen.

Wenn Geflüchtete aus der Türkei in Deutschland Asyl beantragen, wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zunächst geprüft, ob die Einreise nach Deutschland über sogenannte sichere Drittstaaten erfolgte. Nach dem Abkommen von Dublin III ist immer das Land für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig, über das der Flüchtling eingereist ist bzw. von dem er ein Visum zur Einreise erhalten hat.

Wenn festgestellt wird, dass Deutschland für den Asylantrag zuständig ist, prüft das Bundesamt für Migration zunächst, ob eine politische Verfolgung vorliegt. Das wird in der Regel bei Kriegsdienstverweigerern verneint. Die Verfolgung allein wegen Kriegsdienstverweigerung gilt nach wie vor nicht als Asylgrund.

Zusätzlich prüft das Bundesamt für Migration, ob Abschiebehindernisse nach § 60 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vorliegen. Das Bundesamt für Migration verneint auch dies oft genug. Für Kriegsdienstverweigerer gibt es aber wichtige Anhaltspunkte für einen Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG aufgrund der Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in den Fällen Bayatyan gegen Armenien (9) und Erçep gegen Türkei. (10)

Im § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz ist ausgeführt: „Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.“ Das Gesetz verweist damit auf die Europäische Menschenrechtskonvention.

Wenn also ein Land die Menschenrechtskonvention ratifiziert hat, dem Asylantragsteller aber bei einer Abschiebung in das Herkunftsland trotzdem eine Menschenrechtsverletzung droht, soll ein Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz ausgesprochen werden.

Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei können sich somit auf die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte berufen, das in der Strafverfolgung von Kriegsdienstverweigerern eine Verletzung des Artikels 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention festgestellt hat.

Die Behörden werden allerdings im Asylverfahren in jedem Einzelfall prüfen, ob solch eine Verfolgung tatsächlich in Betracht kommt. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass das Bundesamt für Migration und mit einem Asylantrag befasste Gerichte prüfen werden, ob eine glaubwürdige Kriegsdienstverweigerung vorliegt entsprechend der Definition des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (...mehr). Hier wird es also darauf ankommen, dass der Kriegsdienstverweigerer ausführlich seine Motivation und Überzeugung darlegen kann, auf keinen Fall eine Waffe in die Hand nehmen zu können. Wir empfehlen, sich an kompetente Beratungsstellen zu wenden, die auch Rechtsanwälte vermitteln können.

In deutscher Sprache unter: office@Connection-eV.org oder Tel.: 069 - 82 37 55 -34

In türkischer Sprache unter: vicdaniretbilgi@gmail.com

Quellen:

(1) Militärgesetz Kanun 7179 https://www.mevzuat.gov.tr/MevzuatMetin/1.5.7179.pdf 

(2) https://www.msb.gov.tr/Askeralma/icerik/bedelli-askerlik

(3) https://www.hurriyet.com.tr/bilgi/galeri-bedelli-askerlik-ucreti-2024-aciklandi-bedelli-askerlik-ucreti-ne-kadar-oldu-kac-tl-hangi-bankalara-para-yatirilir-msb-duyurdu-423869879

(4) https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22appno%22:[%2239437/98%22],%22itemid%22:[%22001-72146%22]}

(5) https://de.connection-ev.org/pdfs/2023-06-02_TuerkeiBericht.pdf

(6) https://www.konsolosluk.gov.tr/Procedure/ShowProcedure/5

(7) https://dovizle.msb.gov.tr/

(8) https://www.juraforum.de/news/doppelte-staatsbuergerschaft-in-deutschland-neuerungen-ab-2024_259459

(9) https://de.connection-ev.org/article-1411

(10) https://de.connection-ev.org/article-1612

Roni Sıncı, Connection e.V.: Freikaufsregelung, Ausbürgerung, Ausmusterung und Asyl, aktualisiert am 06.02.2024.

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