Kriegsdienstverweigerung und Asyl

von Rudi Friedrich

(15.05.2021) In den 1990er Jahren hatten einige Hundert Wehrpflichtige aus der Türkei in Deutschland und anderen Ländern Asyl beantragt. Sie waren mit ihrer Kriegsdienstverweigerung an die Öffentlichkeit gegangen, hatten vor dem türkischen Konsulat, bei Pressekonferenzen oder anderen Gelegenheiten deutlich gemacht, dass sie nicht bereit waren, Dienst im türkischen Militär abzuleisten – insbesondere auf dem Hintergrund des damals aktuellen Krieges im Südosten der Türkei. Vielfach wurden ihre Anträge zunächst von den Behörden abgelehnt. In einigen Fällen gelang es tatsächlich, einen flüchtlingsrechtlichen Schutz zu erhalten. Grundlage dafür war sehr oft die Tatsache, dass sie aufgrund ihrer öffentlichen Kriegsdienstverweigerung eine zusätzliche Strafverfolgung zu erwarten hatten.

Mit der steigenden Zahl dieser Fälle versuchten die deutschen Behörden jedoch, eine Argumentation zu entwickeln, um diese Asylanträge ablehnen zu können. So wurde in einem Fall schließlich argumentiert, dass faktisch keine Verfolgung mehr drohe, da es nun so viele seien, dass die türkischen Behörden nicht mehr in allen Einzelfällen gegen die Kriegsdienstverweigerer vorgehen würden. Es bestände also keine Verfolgungsgefahr mehr. Solch eine Einschätzung wurde selbst dann aufrechterhalten, wenn Nachweise dafür vorlagen, dass entsprechende Strafverfahren eingeleitet worden waren.1 Ganz offensichtlich wurde von den deutschen Behörden versucht, diese Tür zuzumachen, um so wieder pauschal Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei in den Asylverfahren abzulehnen und ihnen somit den asylrechtlichen Schutz zu verwehren.

Im folgenden Artikel will ich der Frage nachgehen, wie sich die Situation der Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei in Asylverfahren aktuell darstellt angesichts der derzeitigen repressiven Politik der türkischen Regierung und neu ergangener Direktiven und Urteile auf europäischer und internationaler Ebene.

Vorbemerkung: ein emanzipativer Schritt wird geächtet

Für Connection e.V. stehen die Frauen und Männer im Vordergrund, die aus einer häufig ganz konkreten Situation heraus Nein sagen und sich dem Kriegsdienst entziehen, verweigern oder desertieren. Solch eine Entscheidung ist mutig, gerade angesichts drohender strafrechtlicher Konsequenzen und der Ächtung als Verräter. Die Kriegsdienstverweigerung oder auch Desertion hat aber eine weitere Bedeutung: Kriegsdienstverweigerer und Deserteure geben in den Gesellschaften, die an einem Krieg beteiligt sind, ein Beispiel für Handlungsmöglichkeiten außerhalb der Kriegslogik, die nur Verbündete und Feinde, nur die militärische Auseinandersetzung, den Kampf sieht. Sie zeigen auf, dass es zwar einen Zwang gibt, zum Militär zu gehen und dort zu bleiben, ihre Entscheidung sich aber nicht diesem Zwang unterordnet. Das Befehls- und Gehorsamsprinzip, ohne dass das Militär mit seinen hierarchischen Strukturen nicht funktionieren würde, wird in Frage gestellt. Es ist ein Schritt der Emanzipation, bis hin zur Idee, den Krieg zu beenden. Auch wenn es nur wenige Fälle gab, bei denen allein die Zahl der Deserteur*innen und Kriegsdienstverweiger*innen zumindest eine Ursache dafür war, den Krieg wirklich zu beenden, so wirkt ihr Beispiel doch in die Gesellschaften hinein.

Darüber hinaus ist ein solcher Schritt für viele die einzig mögliche Alternative, sich nicht an den Verbrechen eines Krieges zu beteiligen oder nicht auf die eigenen Nachbarn schießen zu müssen. Die Motive sind vielfältig und entsprechen nur selten denen, die hier in Deutschland als Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen verstanden werden, also einer generellen Ablehnung jeden Kriegseinsatzes. Die Motive von Deserteur*innen und Kriegsdienstverweiger*innen beziehen sich viel stärker auf die konkrete Situation, den jeweils stattfindenden Krieg. Sie achten dabei nicht auf internationale Konventionen, sondern nur auf ihr eigenes Gewissen.

Entwicklung der Asylverfahren

Nach wie vor akzeptiert die Türkei nicht das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung. Seit Anfang der 90er Jahre haben mehr als 1.000 Wehrpflichtige in der Türkei ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt. Hunderttausende haben sich auf andere Art und Weise der Wehrpflicht entzogen oder sind untergetaucht. Einige Hundert haben aufgrund der drohenden Verfolgung im Ausland Asyl gesucht.

In ihren Asylverfahren mussten sie aber häufig erleben, dass ihre Gewissensentscheidung und die sich daraus ableitende Strafverfolgung nicht als Asylgrund gewertet wurde. So hatte das OVG Niedersachsen in solch einem Fall festgestellt, dass ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht aus Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, abgeleitet werden könne, da aus Art. 4 Abs. 3 der Konvention folge, dass die allgemeine Wehrpflicht als Recht jeden Staates völkerrechtlich anerkannt sei und keine Pflicht bestehe, einen Ersatzdienst anzubieten. Da die Türkei jeden, der den Kriegsdienst verweigert, unabhängig von der Motivation bestrafe, käme der Bestrafung lediglich ein ordnungsrechtlicher Charakter zu. Auch ein Abschiebeschutz sei abzulehnen. Zwar sei in der Zwischenzeit die Qualifizierungsrichtlinie der Europäischen Union in Kraft getreten. Aber bei der Ableistung des Wehrdienstes in der Türkei würden keine Handlungen verlangt, wie die Teilnahme an einem völkerrechtswidrigen Krieg oder völkerrechtswidrige Handlungen.2

Nun hat sich seit 2007 die obergerichtliche Rechtsprechung durch Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofes bezüglich der Kriegsdienstverweigerung und bezüglich der Asylgewährung bei Kriegsdienstverweigerung gewandelt. So gab es unter anderem folgende wegweisende Entscheidungen und Richtlinien:

2004 wurde die EU-Qualifikationsrichtlinie vorgelegt, die definierte, wer als Flüchtling anerkannt werden kann und wem subsidiärer Schutz zusteht. Die Richtlinie wurde überarbeitet. Die überarbeitete Fassung war bis zum 21. Dezember 2013 in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) umzusetzen. Mit ihr sollen die geschützt werden, die sich einem völkerrechtswidrigen Krieg oder völkerrechtswidrigen Handlungen entziehen und mit Verfolgung rechnen müssen.3

2006 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Ülke gegen Türkei, dass eine Verletzung des Artikels 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorliege, da insbesondere die wiederholte Bestrafung eines Kriegsdienstverweigerers, „die sich daraus ergebenden summierenden Effekte der Verurteilungen (…) in Verbindung mit der Möglichkeit, dass er einer lebenslangen Strafverfolgung unterliegen könnte, im Missverhältnis zu dem Ziel stehen, die Ableistung seines Militärdienstes sicherzustellen.“ Der Gerichtshof bezeichnete das sich aus dieser Situation für den Antragsteller zwangsweise ergebende Leben im Geheimen als „zivilen Tod“.4

2011 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Bayatyan gegen Armenien, dass die Verurteilung eines Kriegsdienstverweigerers Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), also das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit verletzt. Es erkannte damit zugleich das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung an.5 Ähnliche Urteile gab es auch bezüglich von Kriegsdienstverweigerern aus der Türkei.6

2013 legte das UNHCR die Richtlinien zum Internationalen Schutz Nr. 10 vor in denen die Behandlung von Anträgen auf Flüchtlingsstatus bezüglich Militärdienst im Zusammenhang mit der Genfer Konvention behandelt werden.7

2013 beschloss der UN-Menschenrechtsrat eine Resolution, in der er die Staaten ermutigt, für jene Militärdienstverweigerer, die wegen ihrer Verweigerung in ihrem Herkunftsland wohl begründete Verfolgung befürchten müssen, die Gewährung von Asyl zu erwägen.8

a) Der Grundsatz

Im Juni 2020 legte Julia Idler eine ausführliche Untersuchung dazu vor, wie sich die Flüchtlingsanerkennung von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren nach der Genfer Flüchtlingskonvention entwickelt hat.9 Sie untersuchte dazu insbesondere die Rechtsprechung in Deutschland und den angloamerikanischen Staaten. Sie kommt darin zu dem Schluss, dass in der Europäischen Union, wie auch in Kanada, USA und Großbritannien die obergerichtliche Rechtsprechung weiter darauf verweist, „dass es sich bei der Wehrpflicht um eine allgemeine staatliche Pflicht handelt, die alle Bürger (oder jedenfalls alle Bürger im wehrfähigen Alter und gegebenenfalls männlichen Geschlechts) gleichermaßen trifft; Strafverfolgung und Bestrafung für eine Verweigerung wird daher als legitimes staatliches Handeln eingestuft.“10 Eine weniger restriktive Haltung nimmt diesbezüglich nur Australien ein.

b) Flüchtlingsschutz nach der Genfer Konvention

Das hat zur Folge, dass trotz der Entwicklungen in der obergerichtlichen Rechtsprechung weiterhin Personen, die sich in der Türkei dem Kriegsdienst verweigern und die mit Verfolgung zu rechnen haben, in der Regel keinen Flüchtlingsschutz nach der Genfer Konvention erhalten. Die Bestrafung an sich wird als nicht ausreichend erachtet. Nur wenn eine zusätzliche Verfolgung aufgezeigt werden kann, wenn die Strafverfolgung unverhältnismäßig hoch ist oder wenn eine zielgerichtete Verfolgung aus politischen Gründen dargelegt werden kann, wird von den Behörden und Gerichten die Anerkennung als Flüchtling erwogen.

So gab es in den letzten Jahren einige Fälle von Kriegsdienstverweigerern aus der Türkei, die aufgrund ihrer politischen Arbeit in der Türkei zusätzlicher Strafverfolgung ausgesetzt waren und dies auch belegen konnten. Hier ist insbesondere eine Strafverfolgung nach Art. 318 des Türkischen Strafgesetzbuches relevant, die die „Distanzierung des Volkes vom Militär“ und damit kritische Äußerungen zum Militär oder auch die Aufforderung zur Kriegsdienstverweigerung unter Strafe stellt. Relevant ist ebenso Artikel 7 Abs. 2 des Anti-Terrorismus Gesetzes, das vielfach gegen Friedensaktivist*innen eingesetzt wurde und „Propaganda für eine terroristische Organisation“ unter Strafe stellt. Diesbezüglich gab es Anerkennungen in Zypern und Frankreich.11

c) Subsidiärer Schutz

Die Qualifizierungsrichtlinie der Europäischen Union sieht in Artikel 15 einen subsidiären Schutz bei Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers vor. Das knüpft an Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) an. Hier ist insbesondere zu beachten, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wie oben dargelegt, im Falle Ülke v. Türkei aufgrund der wiederholten Bestrafung eines Kriegsdienstverweigerers eine Verletzung des Artikel 3 EMRK festgestellt hatte. In diesem Sinne gab es in Deutschland beispielsweise ein Urteil zu einem aserbaidschanischen Kriegsdienstverweigerer. Das Gericht stellte hier fest, dass „ein dauerhaft den Wehrdienst verweigernder aserbaidschanischer Staatsangehöriger(…) in Aserbaidschan mit wiederholten und dadurch in der Summe unverhältnismäßig langen Freiheitsstrafen rechnen (muss). Dies stellt die Gefahr einer erniedrigenden und entwürdigenden Bestrafung dar, die außer Verhältnis zu dem Zweck steht, die Ableistung des Wehrdienstes sicherzustellen.“12 Das Gericht kam in diesem Fall aber nur zu dieser Entscheidung, da es davon überzeugt war, „dass der Kläger den Wehrdienst tatsächlich aus Gewissensgründen verweigert“.

d) Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung

Auch wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Kriegsdienstverweigerung als Ausfluss der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit definiert hat, spiegelt sich dies nach wie vor nicht im Flüchtlingsrecht wider. Artikel 9 der Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union schließt einen grundsätzlichen Schutz für Kriegsdienstverweigerer faktisch aus und bezieht einen möglichen Schutzstatus allein auf die Verweigerung völkerrechtswidriger Handlungen oder völkerrechtswidriger Kriege.

Bei einem Asylantrag wird allerdings zusätzlich geprüft, ob eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention vorliegt. In Deutschland ist dann nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz ein Abschiebehindernis auszusprechen, der schlechtest mögliche Status. Dort steht: „Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.“

e) Situative Kriegsdienstverweigerung

Nicht alle Kriegsdienstverweigerer und –verweigerinnen treffen eine absolute Entscheidung gegen jeden Kriegseinsatz. Häufig wird diese, gerade in einem Kriegs- oder Spannungsfall, aufgrund einer besonderen persönlichen oder gesellschaftlichen Situation getroffen. So gibt es in der Türkei viele Wehrpflichtige, die den Einsatz im vor allem von der kurdischen Bevölkerung bewohnten Osten des Landes verweigern. Aber auch in solch einer situativen Entscheidung spiegelt sich die Überzeugung wider, nicht an militärischen Einsätzen beteiligt sein zu wollen und die damit verbundene Waffengewalt abzulehnen. Das UNHCR weist in seinen Richtlinien darauf hin, dass eine Kriegsdienstverweigerung auch dann vorliegt, wenn Personen der Überzeugung sind, dass „die Anwendung von Gewalt unter bestimmten Umständen berechtigt ist, in anderen jedoch nicht, und dass sie daher den Dienst in diesen anderen Fällen verweigern müssen“.13 Auch die Generalanwältin des Europäischen Gerichtshofes, Eleanor Sharpston, machte in einer Stellungnahme vom 11. November 2014 deutlich, der Begriff Kriegsdienstverweigerung „kann sich aber auch auf Personen beziehen, die aus juristischen, moralischen oder politischen Gründen einen konkreteren Konflikt oder die Mittel und Methoden zur Austragung dieses Konflikts ablehnen.“14 Diese Argumentation spiegelt sich bislang nicht in den Asylverfahren wider.

f) Völkerrechtswidriger Einsatz

Wie oben angemerkt, sollen mit der EU-Qualifizierungsrichtlinie die geschützt werden, die sich einem völkerrechtswidrigen Krieg oder völkerrechtswidrigen Handlungen entziehen und mit Verfolgung rechnen müssen. Runter gebrochen auf die Situation in der Türkei bedeutet dies, dass ein Asylantragsteller nachweisen müsste, dass das türkische Militär solche Kriegsverbrechen begeht und dass er mit großer Wahrscheinlichkeit als Wehrpflichtiger zur Teilnahme gezwungen wäre. Nach derzeitigem Stand ist davon auszugehen, dass dieser Nachweis nur selten gerichtsfest erbracht werden kann und die Hürden für eine Anerkennung extrem hoch angesetzt werden.

g) Glaubwürdigkeit einer Kriegsdienstverweigerung

Behörden und Gerichte gehen bei einer Kriegsdienstverweigerung von sehr hohen Maßstäben aus. In Deutschland beispielsweise orientieren sich die Gerichte an der Rechtsprechung, die sich über die letzten Jahrzehnte zu den Verfahren zu deutschen Kriegsdienstverweigerern entwickelt hat. Im Falle eines kurdischen Verweigerers stellte dann das Verwaltungsgericht Saarland fest: „Eine solche Gewissensentscheidung setzt eine sittliche Entscheidung voraus, die der Kriegsdienstverweigerer innerlich als für sich bindend erfährt und gegen die er nicht handeln kann, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten. Erforderlich ist eine Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und damit die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung. Sie muss absolut sein und darf nicht situationsbezogen ausfallen.“15 Da der Antragsteller seine Verweigerung nicht in der geforderten Weise dargelegt hatte, wurde sein Asylbegehren abgelehnt.

Kriegsdienstverweigerer brauchen Asyl

Im Grundsatz müssen wir also feststellen, dass die Verfolgung der Kriegsdienstverweigerung oder Militärdienstentziehung nicht als eine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention angesehen wird, insbesondere mit dem Argument, dass hier nur eine Strafverfolgung eines Deliktes, also der Militärdienstentziehung oder Desertion vorliegt, nicht aber zielgerichtet gegen die betreffende Person im Sinne einer politischen Verfolgung vorgegangen werde. Die Gewissensentscheidung wird missachtet. Diese Auffassung ist unseres Erachtens aufgrund der Rechtsentwicklung nicht länger hinnehmbar.

Eine Flüchtlingsanerkennung entsprechend der EU-Qualifizierungsrichtlinie ist dann möglich, wenn die betreffende Person eine Flüchtlingseigenschaft gemäß der Genfer Konvention aufweist und es diesbezüglich eine Verfolgungshandlung gibt. In der Qualifizierungsrichtlinie heißt es entsprechend: „Eine der Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Artikel 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention ist das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen den Gründen der Verfolgung, nämlich Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, und den Verfolgungshandlungen oder dem fehlenden Schutz vor solchen Handlungen.“16

a) Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe

In Bezug auf Personen, die den Kriegsdienst verweigern, ist insbesondere die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bislang fast völlig außer Acht gelassen worden. Das UNHCR hat in seinen Richtlinien die soziale Gruppe näher definiert. Es heißt dort:

„Eine bestimmte soziale Gruppe ist eine Gruppe von Personen, die neben ihrem Verfolgungsrisiko ein weiteres gemeinsames Merkmal aufweisen oder von der Gesellschaft als eine Gruppe wahrgenommen werden. Das Merkmal wird oft angeboren, unabänderlich oder in anderer Hinsicht prägend für die Identität, das Bewusstsein oder die Ausübung der Menschenrechte sein.“17 In ähnlicher Weise wird auch in der Qualifizierungsrichtlinie der Europäischen Union in Artikel 10 (d) eine soziale Gruppe definiert.

Entsprechend kommt das UNHCR in den Richtlinien Nr. 10 zu der Schlussfolgerung, dass Kriegsdienstverweigerer als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind, „da sie eine Überzeugung teilen, die prägend für ihre Identität ist, und sie von der Gesellschaft auch als eine bestimmte Gruppe wahrgenommen werden können. Auch Personen mit gemeinsamen Erfahrungen, zum Beispiel Kindersoldaten, können eine bestimmte soziale Gruppe darstellen. Dasselbe kann im Fall von Wehrdienstentziehern oder Deserteuren der Fall sein, da beide Arten von Antragstellenden ein unabänderliches gemeinsames Merkmal aufweisen: Sie haben sich in der Vergangenheit dem Militärdienst entzogen oder diesen umgangen. Deserteure können in manchen Gesellschaften auch deshalb als bestimmte soziale Gruppe wahrgenommen werden, weil im Militärdienst generell ein Zeichen der Loyalität zu dem Land gesehen wird bzw. weil solche Personen anders behandelt werden [zum Beispiel durch Diskriminierung beim Zugang zu Beschäftigung im öffentlichen Dienst], wodurch sie sich als Gruppe von der allgemeinen Bevölkerung abheben und von dieser unterscheidbar werden. Dasselbe kann auch für Wehrdienstentzieher gelten. Rekruten können eine soziale Gruppe darstellen, deren gemeinsame Charakteristik ihre Jugend, ihre erzwungene Einbindung in das Militärkorps oder ihre untergeordnete Stellung aufgrund mangelnder Erfahrung und ihres niedrigen Ranges ist.“18

b) Verfolgungshandlung

Zudem unterliegen Personen, die sich dem Militärdienst verweigern oder sich dem Militärdienst entziehen, in der Türkei sowohl einer strafrechtlichen Verfolgung wie auch einer Verfolgung durch den Status des sogenannten „Zivilen Todes“. Dies ist eine Definition des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aus dem Jahr 2006, wie oben dargelegt. Damit werden sie von einer ganzen Reihe von bürgerlichen Rechten ausgeschlossen. Entscheidend für die Verfolgung ist dabei nicht, welche Motive für ihre Tat vorliegen. Allein die Tat selbst wird als den Zielen staatlichen Handelns entgegen gerichtet angesehen. So unterliegen sie einer lebenslang bestehenden Wehrpflicht, die dazu führt, dass sie nach erfolgter Bestrafung erneut einberufen werden und somit einer wiederholten Bestrafung ausgesetzt sind. Personen, die die Ableistung des Militärdienstes verweigern, müssen faktisch ohne bürgerliche Rechte leben. Sie können keinen Pass erhalten, keine legale Arbeitsstelle annehmen, ihre Reisefreiheit ist beschränkt, sie unterliegen der ständigen Gefahr erneut rekrutiert und strafrechtlich verfolgt zu werden, sie können kein Konto eröffnen und sie können nicht an Wahlen teilnehmen. Kriegsdienstverweigerer sehen sich so weitreichenden administrativen Maßnahmen gegenüber, die sie aus der Gesellschaft ausgrenzen, sie wesentlicher bürgerlicher Rechte und Menschenrechte berauben und sie faktisch in einen illegalen Status zwingen.

Kriegsdienstverweigerer sehen sich zudem einer durch die administrativen Maßnahmen bestärkten öffentlichen sozialen Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt und damit einer über die strafrechtliche Sanktionierung hinausgehenden Verfolgung.

Resümee

Aus diesen Erwägungen heraus ergibt sich zwingend die Notwendigkeit, dass Personen, die sich in der Türkei dem Militärdienst entziehen, verweigern oder desertieren, und die deshalb einer Verfolgung ausgesetzt sind, zum einen als soziale Gruppe im Sinne der Genfer Konvention anzusehen sind und zum anderen aufgrund der Verfolgung asylrechtlichen Schutz erhalten müssen. Es ist unverantwortlich, dass Personen, die sich mit ihrer Verweigerung, sich an einem Krieg und den Kriegsverbrechen zu beteiligen, der Flüchtlingsschutz verweigert und sie abgeschoben werden. Damit werden sie genau den Kriegsherren ausgeliefert, die für die Kriege verantwortlich sind.

Fußnoten

1 Urteil des VG Gießen im Fall Er, 25. Januar 2006

2 OVG Niedersachsen, Beschluss vom 2. März 2007 – AZ 11LA 189/06; zur Qualifizierungs­richtlinie siehe Fußnote 3

3 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, L 337/9, Artikel 9 Abs. 1e, www.asyl.net/index.php?id=127

4 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Entscheidung vom 24.1.2006, Antrag Nr. 39437/98

5 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Entscheidung vom 7. Juli 2011, Antrag Nr. 23459/03

6 Yunus Erçep v. Turkey, 43965/04, 22/11/2011; Feti Demirtaş v. Turkey, 5260/07, 17/01/2012; Halil Savda v. Turkey, 42730/05, 12/06/2012; Mehmet Tarhan v. Turkey, 9078/06, 17/07/2012

7 UNHCR: Guidelines on International Protection no. 10. 3. Dezember 2013, HCR/GIP/13/10. Die Guidelines wurden am 12. November 2014 korrigiert: http://www.unhcr.org/529efd2e9.html

8 UN Human Rights Council. A/HRC/RES/24/17, 27. September 2013, http://ap.ohchr.org/documents/dpage_e.aspx?si=A/HRC/RES/24/17

9 Julia Idler: Die Flüchtlingsanerkennung von Wehrdienstver­weigerern und Deser­teuren nach der Genfer Flüchtlingskonvention, Nomos Verlag, Baden-Baden 2020.

10 Julia Idler, S. 126f

11 z.B. Entscheidung des Asylum Service of the Republic of Cyprus im Fall Halil Savda vom 24.10.2017, AZ F17-02131 R

12 VG Lüneburg, 16.11.2020, 2 A 21/18, https://www.asyl.net/rsdb/m29074/

13 UNHCR, aaO.

14 European Court, Opinion of General Advocate Sharpston, C-472/13, Punkt 53. https://en.connection-ev.org/pdfs/14StSh-en.pdf

15 VG Saarland, Urteil vom 21.11.2018 - 6 K 1091/17 - asyl.net: M27072, https://www.asyl.net/rsdb/m27072/

16 Richtlinie 2011/95/EU, (29)

17 UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz, HCR/GIP/02/02 vom 7. Mai 2002

18 UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz Nr. 10 vom 12. November 2014, HCR/GIP/13/10/Corr. 1, Punkt 58

Rudi Friedrich: Kriegsdienstverweigerung und Asyl. 15. Mai 2021. Der Beitrag erschien in der Broschüre "Kriegsdienstverweigerung in der Türkei", Mai 2021. Hrsg.: Connection e.V., War Resisters International und Union Pacifiste de France

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