Türkei: Mit den Gezi-Protesten fing es an
(15.05.2021) Ich bin Mertcan Güler. Auch wenn ich als Kind nichts davon wusste, hatte ich schon als Kind die Idee, nicht zum Militär gehen zu wollen. Ich erinnere mich daran, dass ich im Alter von sechs Jahren meiner Oma erklärte, dass ich keinen Militärdienst machen werde. Er machte mir schon damals Angst. Meine Oma antwortete: „Bis deine Zeit gekommen ist, wird es sowieso keine Wehrpflicht mehr geben.“ Es ist mehr als 20 Jahre her und es gibt in der Türkei leider immer noch die Wehrpflicht.
Bis zu meinem Studium mussten wir jeden Montagmorgen vor Schulbeginn und jeden Freitagabend nach Schulschluss die Nationalhymne singen und das sogenannte „Unser Versprechen“ - Andimiz auf türkisch - aufsagen. Die türkische Nationalhymne und „Unser Versprechen“ schließt faschistische Elemente ein. Die ersten drei Sätze von „Unserem Versprechen“ lauten: - „Ich bin Türke. Ich bin richtig. Ich bin fleißig.“ Über die ständige Wiederholung manipuliert der türkische Staat die Kinder mit Militarismus und Faschismus während der ganzen Ausbildungszeit. Er indoktriniert sie, eine Art Gehirnwäsche.
Während meines Studiums fanden 2013 die Gezi-Proteste statt. Mein erstes politisches Engagement und die deutlichen Änderungen meiner Ideen begannen ab diesem Zeitpunkt. In den nächsten Tagen wurden weitere Videos, Bilder und Berichte über Polizeiterror in Istanbul hochgeladen. Was wir sahen war gruselig. Die Gewalt und der Terror gegen Zivilisten war abschreckend. Was uns und die anderen bewegte, war das aggressive Vorgehen der Regierung gegen ganz normale und sogar nicht-politisch motivierte Menschen, um den eigenen Willen durchzusetzen. Die islamistisch geführte Politik der AKP Regierung ist auch der Grund, dass ich mich dem Islam gegenüber kritisch stellte. Wir sahen nicht nur, sondern erlebten auch, wie brutal und faschistisch der Islam sein kann, wenn er an die Macht kommt.
Es ging uns nahe, als das 15-jährige Kind Berkin Elvan1 durch eine Gasbombe am Kopf lebensgefährlich getroffen wurde und später im Krankenhaus seinen Verletzungen erlag. Wir konnten nicht ermessen, dass der Staatsterror soweit gehen würde. Wir demonstrierten dagegen. Wir wollten zum AKP-Gebäude laufen und davor demonstrieren. Die Polizei reagierte erneut mit Gewalt. Damit bewies sie, dass sie nicht dort war, um die Menschen zu schützen, sondern die Regierung. Wir liefen vor den Gasbomben und Plastikgeschossen weg, weil die Polizei bewusst und gezielt auf uns schoss. Auf der Flucht fanden wir Unterschlupf in einem Haus und versteckten uns dort bis wieder Ruhe herrschte. Da die Gefahr der weiteren Verfolgung bestand, gingen wir auf unterschiedlichen Routen nach Hause. Ich schaute mich die ganze Zeit um und fühlte mich unsicher.
Nach diesen Ereignissen verstand ich, dass ich Widerstand leisten muss um meine Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und Versammlungsfreiheit zu verteidigen und um überleben und existieren zu können. Ich begann eine Recherche und tauschte diese Informationen mit meinen kurdischen und alevitischen Kommiliton*innen aus. Ich erfuhr was sie erlebten, warum sie litten. Ich konnte nicht mehr tatenlos zusehen und wollte gegen solche Ungerechtigkeiten etwas tun. Es hatte nichts mehr mit Herkunft, Religion oder Minderheit zu tun. Das war eine Sache der Menschlichkeit.
Ich möchte nicht, dass jemand meine Leiche nur wegen meiner politischen Ansichten in einer Kaserne findet. Ich werde die islamistische Regierung nicht mit dem „Märtyrer“-Schwachsinn füttern. Warum muss ich überhaupt jemanden töten? Warum soll ich für das „Vaterland“ kämpfen, wenn dieses Vaterland mich ausschalten möchte? Warum ist das überhaupt mein Vaterland, wenn ich nicht mal meine Meinung sagen darf und nicht existieren darf? Ich verweigere den Militärdienst aus Gewissensgründen und wegen meiner politischen und religiösen Ansichten.
Die Kriegsdienstverweigerung ist in der Türkei immer noch nicht anerkannt, obwohl sie ein Menschenrecht ist. Wer verweigert, bekommt zunächst Geldstrafen, danach Haftstrafen. Wann auch immer man in einem Hotel übernachten will, kommen Polizisten in der Nacht und verlangen, dass man ein Dokument unterschreibt, welches auferlegt, sich innerhalb von 15 Tagen zum Militärdienst zu melden. Wenn man irgendwann in eine andere Stadt reisen will und dabei kontrolliert wird, passiert das Gleiche, ebenso bei einer einfachen Ausweiskontrolle auf der Straße. Arbeiten darf man sowieso nicht. Der türkische Staat zwingt mich in einen Zivilen Tod, wenn ich kein Soldat werden möchte.
Das ist ein Wunde in der türkischen Gesellschaft. Weil der Staat und die Erdoğan-Regierung Gewalt und Militarisierung immer verehrt haben, sehen die Menschen Militärdienst als ein Symbol für Männlichkeit und Patriotismus an. Ich aber sage Nein dazu. Ich rufe die neue Generation dazu auf, den Militärdienst zu verweigern, auch wenn es kein einfacher Weg ist.
Fußnote
1 http://www.kedistan.net/tag/berkin-elvan/
Mertcan Güler: Mit den Gezi-Protesten fing es an. 15. Mai 2021. Der Beitrag erschien in der Broschüre "Kriegsdienstverweigerung in der Türkei", Mai 2021. Hrsg.: Connection e.V., War Resisters International und Union Pacifiste de France
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