Flucht vor der Beteiligung am Krieg

Zahlen zu Russland, Belarus und Ukraine

Wir wissen, dass Tausende Militärdienstpflichtige aus Russland, Belarus und der Ukraine geflüchtet sind. Es ist aber nicht möglich, genaue Zahlen über Desertion, Kriegsdienstverweigerung und Militärdienstentziehung in diesen Ländern zu erhalten. Keine Statistik erfasst, wie viele es wirklich sind. Deshalb können wir an dieser Stelle nur den Versuch unternehmen, dies einzuschätzen.

Wer ist verpflichtet zur Armee zu gehen?

In allen genannten Ländern gilt die Wehrpflicht von 18 Jahren bis 27 Jahren. Aber im Kriegsfalle wird diese Altersgrenze nach oben geschoben. Insbesondere Reservisten können für einen Kriegseinsatz einberufen werden. So hat die russische Regierung die Altersgrenze für eine mögliche Einberufung von Vertragssoldaten Ende Mai 2022 auf 65 Jahre angehoben1. Die Ukraine hat bereits im Februar eine Ausreisesperre für mögliche Rekruten verabschiedet, im Alter zwischen 18 und 60 Jahren2 und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ausgesetzt3. Frauen sind bislang von diesen Regelungen ausgenommen, sie sind in diesen Ländern nicht wehrpflichtig. Allerdings könnten auch Frauen mit kriegswichtigen Berufen, z.B. im medizinischen Bereich, rekrutiert werden. Hinzuweisen ist auch darauf, dass sich die Regelungen im Kriegsverlauf jederzeit ändern können. Wir gehen in unserer Schätzung davon aus, dass die Soldaten, die zum Kriegsdienst (gleich von welcher der Kriegsparteien) eingezogen und eingesetzt werden, grundsätzlich aus der Gruppe der 18 bis 60 Jahre alten Männer kommen.

Ausnahmeregelungen

Für die Rekrutierung gibt es in all diesen Ländern eine Reihe von Ausnahmeregelungen. So gibt es die Möglichkeit der Ausmusterung, die vor allem in Russland und auch Belarus auch mittels Korruption häufig praktiziert wird. Es gibt die Möglichkeit, wegen Ausbildung oder Studium zurückgestellt zu werden. Und es gibt die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung, die allerdings in Russland und Belarus sehr restriktiv gehandhabt wird. In der Ukraine wurde das Recht auf Kriegsdienstverweigerung mit Kriegsbeginn ausgesetzt.4 Mit der Teilmobilisierung im September 2022 gibt es nun eine breit angelegte Rekrutierung vor allem von Reservisten.

Russland begann den Krieg als sogenannte Sonderoperation und behauptete, dass keine Wehrpflichtigen in der Ukraine eingesetzt werden, sondern nur Vertragssoldaten. Verschiedene Beispiele zeigten jedoch, dass Wehrpflichtige dazu genötigt wurden, Verträge zu unterschreiben, so dass sie sich unversehens in der Ukraine wiederfanden5. Uns erreichen auch einzelne Berichte, die aufzeigen, dass auch andere Personen rekrutiert werden.

Um die Ausnahmeregelungen in den Zahlen widerzuspiegeln, haben wir die vorhandenen Zahlen zu Männern zwischen 18 und 60 Jahren reduziert. Im Falle Russlands gehen wir also davon aus, dass nur 70% der Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren nach den aktuellen Vorgaben wirklich im Herkunftsland rekrutiert werden könnten. Da im Falle der Ukraine viele mit solch einer Ausnahmeregelung das Land verlassen haben, gehen wir hier sogar davon aus, dass nur ca. 50% der geflüchteten Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren nach den aktuellen Vorgaben wirklich im Herkunftsland rekrutiert werden könnten.

Bei all dem ist zudem zu beachten, dass sich die Situation für die Wehrpflichtigen und Reservisten aufgrund der Kriegssituation jederzeit ändern kann. Das gilt auch für eine mögliche Rekrutierung von Frauen. Es ist nicht auszuschließen, dass bei Fortführung des Krieges auf eine größere Gruppe von Menschen zurückgegriffen wird, die Ausnahmeregelungen und Zurückstellungen aufgehoben werden, das Militär für Frauen weiter geöffnet oder verpflichtend wird usw.

Umfang der Flucht und Zielländer

Russland

Im Mai 2022 veröffentlichte OK Russian eine Studie zum Thema Flucht aus Russland. In der Studie wird bis Mitte März von 300.000 Dissident*innen gesprochen, die Russland verlassen haben.6 Zielländer sind nach Wikipedia vor allem Georgien (100.000), die Türkei (100.000), Armenien (50.000).7 Es sind aber auch Länder wie Serbien (30.000), Montenegro, die Baltischen Staaten, Kasachstan oder Israel (17.000).8 In ganz Westeuropa gab es von Januar bis Juni 2022 nach Angaben von Eurostat gerade mal 4.660 Asylantragstellungen von russischen Staatsangehörigen.

Im September wurden Zahlen von Rosstat öffentlich, der offiziellen Statistikbehörde in Russland. Danach haben im ersten Halbjahr 2022 420.000 Personen Russland verlassen. Das ist das Saldo von Abwanderung und Zuwanderung bzw. Rückkehr.9

Eine andere Schätzung10 sprach im April 2022 von über 1.000.000 Flüchtlingen aus Russland. Letztlich ist es nicht klar, aber wir müssen sicher von mehreren Hunderttausend Flüchtlingen ausgehen. Aufgrund der unterschiedlichen Zahlen haben wir hier die offiziellen von Rosstat angegebene Abwanderung von 420.000 Personen zur Grundlage der weiteren Berechnungen für das erste Halbjahr 2022 gemacht. Am Ende dieses Kapitels geben wir auch eine Einschätzung, wie viele nach der Teilmobilmachung am 21. September geflüchtet sind.

Die Fluchtbewegung aus Russland hat auch viel damit zu tun, dass das politische Klima und die Restriktionen gegen Oppositionelle deutlich verschärft wurden. Viele waren zu Beginn des Krieges auf die Straße gegangen oder hatten in den Sozialen Medien gegen den Kriegsbeginn protestiert. Das wurde von Polizei und Sicherheitsbehörden scharf verfolgt. Das war somit auch, wie OK Russian angibt, einer der Hauptgründe für das Verlassen des Landes. Auf der anderen Seite müssen wir auch sehen, dass alle Männer, die grundsätzlich der Militärdienstpflicht unterliegen, eben auch mögliche Rekruten sein können, selbst wenn das erst einmal nicht ihr ursächlicher Grund für die Flucht ist. Und die Opposition zum Krieg zeigt zudem, dass sie wenig Interesse daran haben dürften, in diesen Krieg einberufen zu werden.

Es stellt sich also die Frage, wie viele Männer und Frauen sich unter den Flüchtlingen befinden? Und wie viele Männer im entsprechenden Alter sind? Hier kann uns die Statistik von Eurostat über die Asylantragszahlen einen Hinweis geben.

Eurostat gibt an, dass von Januar bis Juni 2022 insgesamt 4.660 Asylanträge von russischen Staatsbürger*innen gestellt wurden, darunter sind 1.780 Anträge von Männern im Alter zwischen 18 und 64 Jahren. Rechnen wir die vier letzten Jahrgänge anteilig heraus, wären es also ca. 1.600 Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren. Das entspräche ca. 1/3 der Gesamtzahl der Asylantragsteller*innen im gleichen Zeitraum.

Wir gehen also davon aus, dass etwa 1/3 der Flüchtlinge aus Russland Männer im Alter von 18-60 Jahre sind. Aufgrund der Ausnahmeregelungen für den Militärdienst reduzieren wir in unserer Schätzung diese Zahl um 30%. Für das erste Halbjahr 2022 kommen wir somit auf der Basis von 420.000 Personen, die Russland verlassen haben, auf eine Zahl von fast 100.000 flüchtigen militärdienstpflichtigen Männern.

Und dann kam die Teilmobilmachung. Sie sorgte dafür, dass noch einmal Zehntausende das Land verlassen haben, sehr oft Richtung Kasachstan und Richtung Georgien. Die Tagesschau berichtete am 27. September 2022, dass allein 100.000 russische Staatsbürger*innen nach Kasachstan geflohen seien.11 Nach Georgien kamen über eine Woche lang jeden Tag etwa 10.000 Personen. Wir gehen daher davon aus, dass allein in der Woche nach der Teilmobilmachung etwa 200.000 russische Staatsbürger*innen das Land verlassen haben.

 

Flucht aus Russland - Januar bis September 2022

1

Gesamtzahl der Flüchtlinge

620.000

2

Männer zwischen 18 und 60 Jahren (1/3 Pos. 1)

210.000

3

Männer militärdienstpflichtig (70% von Pos. 2) geschätzt

150.000

Unter den gleichen Annahmen wie oben beschrieben kommen wir daher zu der Einschätzung, dass seit Anfang des Jahres 2022 etwa 150.000 potentiell militärdienstpflichtige Männer Russland verlassen haben.

Belarus

Die belarussische Organisation Nash Dom, die vom Exil in Litauen aus arbeitet, hatte schon früh die Kampagne „NO means NO“ initiiert und ihren Aufruf, sich einem möglichen Kriegseinsatz zu entziehen, auch breit über die Sozialen Medien veröffentlicht. Nach den von der Organisation erhobenen Zahlen müssen wir hier von ähnlichen Zielländern wie bei Russland ausgehen. Leider liegen nur für Litauen und Georgien Schätzungen vor. So spricht Nash Dom davon, dass 2.000 nach Litauen gegangen sind und 20.000 nach Georgien.12

Wir kommen also bezüglich Belarus zu dem Ergebnis, das schätzungsweise mehr als 22.000 militärdienstpflichtige Männer das Land verlassen haben.

Ukraine

Für die Ukraine legt das UNHCR regelmäßig neue Berichte vor.13 Danach wurden bis Mitte September 2022 in der Europäischen Union 4.040.000 Flüchtlinge aus der Ukraine registriert. Es gab auch fast 2,6 Mio., die nach Russland geflohen sind. Aufgrund fehlender Zahlen über Weiterwanderungen ist aber unklar, wie viele dort verblieben sind. Rosstat gibt für das erste Halbjahr 2022 an, dass etwa 60.000 ukrainische Staatsbürger einen befristeten Aufenthalt bekommen haben.14

In einigen detaillierten Statistiken führt das UNHCR aus, wie viele der ukrainischen Flüchtlinge, Kinder (bis 18 Jahre) sind bzw. Frauen und Männer. Für die Tschechische Republik beispielsweise registrierte das UNHCR bis Mitte September etwa 407.000 Flüchtlinge, darunter 47% Frauen, 34% Kinder und 20% Männer.15 Es sind 75.808 Männer im Alter zwischen 18 und 64 Jahren aus der Ukraine in Tschechien. Für unsere Einschätzung reduzieren wir die Zahl um die letzten vier Jahrgänge, so dass wir von fast 70.000 Männern aus der Ukraine in Tschechien im Alter zwischen 18 und 60 Jahren, also im militärdienstpflichtigen Alter ausgehen, also 17% der insgesamt in der Tschechischen Republik registrierten Flüchtlinge. Wie oben dargestellt, reduzieren wir diese Zahl aufgrund der Ausnahmeregelungen zur Militärdienstpflicht um 50%, womit wir davon ausgehen, dass sich in der Tschechischen Republik etwa 35.000 militärdienstpflichtige Männer aus der Ukraine aufhalten.

 

Flucht aus der Ukraine – Flüchtlinge in der Tschechischen Republik

1

Gesamtzahl der Flüchtlinge

407.000

2

Männer zwischen 18 und 60 Jahren

70.000

3

Männer militärdienstpflichtig geschätzt (50% von Pos. 2)

35.000

In anderen Statistiken kommt das UNHCR eher auf die Einschätzung, dass 10-14% der registrierten Flüchtlinge Männer über 18 Jahre sind.16 Inzwischen vorliegende aktuelle Zahlen zeigen, dass der Anteil der Männer auf Westeuropa bezogen weniger als 10% ist.17 Wir reduzieren unsere Schätzung bezüglich Westeuropa daher und gehen davon aus, dass 8% der in Westeuropa registrierten ukrainischen Flüchtlinge Männer im Alter zwischen 18 und 64 Jahren sind. Wenn wir die letzten vier Jahrgänge abziehen kommen wir hochgerechnet auf etwa 290.000 Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren.

Oben haben wir schon ausgeführt, dass wir aufgrund der Ausnahmeregelungen in unserer Schätzung diese Zahl um 50% reduzieren, womit wir auf eine Zahl von etwa 145.000 militärdienstpflichtigen Männern aus der Ukraine kommen, die das Land in Richtung Westeuropa verlassen haben.

 

Flucht aus der Ukraine – Flüchtlinge in der EU

1

Gesamtzahl der Flüchtlinge

4.040.000

2

Männer zwischen 18 und 60 Jahren

290.000

3

Männer militärdienstpflichtig (50% von Pos. 2) geschätzt

145.000

Wir kommen also bezüglich der Ukraine zu dem Ergebnis, das schätzungsweise mehr als 140.000 militärdienstpflichtige Männer das Land verlassen haben.

Warum erscheinen diese Zahlen nicht in der Öffentlichkeit?

Wir sind über dieses Ergebnis, insbesondere zur Ukraine, selbst überrascht. In der Öffentlichkeit ist kaum bekannt, dass so viele Männer aus der Ukraine geflohen sind, die sich dem Kriegseinsatz entziehen. Es gibt auch fast niemand, der mit seiner Geschichte (auch anonymisiert) an die Öffentlichkeit gehen will. Bei Connection e.V. erhalten wir fast täglich Anfragen zu ukrainischen Verweigerern, fast immer aber von Angehörigen oder Freunden, ganz selten von den Betroffenen selbst.

Wir gehen davon aus, dass zum einen das öffentliche Interesse viel stärker fokussiert ist auf die Verweigerung in Russland (und Belarus). Zudem haben die ukrainischen Verweigerer aktuell keinen Anlass, darüber zu sprechen, da sie in der Europäischen Union zumindest befristet einen humanitären Aufenthalt bekommen. Darüber hinaus befürchten sie wohl Diffamierung und die Brandmarkung als Verräter und bleiben daher lieber im Hintergrund.

Fußnoten

1 Redaktionsnetzwerk Deutschland, 25.5.2022, https://tinyurl.com/bd3he9fh

2 Tagesschau, 25.2.2022, https://tinyurl.com/ycswjchd

3 https://de.connection-ev.org/article-3613

4 ebd.

5 https://de.connection-ev.org/article-3545

6 Russland-Analysen, 16.5.2022, https://tinyurl.com/muapkanc

7 https://tinyurl.com/ydwb6u8d, angesehen am 15.9.2022

8 Tageblatt, Luxemburg, 22.4.2022; Süddeutsche Zeitung, 22.7.2022

9 Deutsche Welle, 6.9. 2022, https://tinyurl.com/yhjem2a9

10 Deutsche Welle, 5.4.2022, https://tinyurl.com/u83zbjs7

11 https://tinyurl.com/mrye77jk

12 https://de.connection-ev.org/article-3547

13 UNHCR: Ukraine Refugee Situation, https://tinyurl.com/2ves77dy, eingesehen am 15.9.2022

14 https://rosstat.gov.ru/storage/mediabank/osn-07-2022.pdf

15 UNHCR: Ukraine Situation/Czech Republic – Temporary protection. 10.9.2022. https://tinyurl.com/msyx8uxy

16 UNHCR: Ukraine Situation – Regional Refugee Response Plan March-December 2022. https://data.unhcr.org/en/documents/download/92257, Seite 9

17 UNHCR: Ukraine Refugee Situation. Polen: https://tinyurl.com/4ffzhx76; Republik Moldau: https://tinyurl.com/yckkp72j; Rumänien: https://tinyurl.com/3anscbx8; Ungarn: https://tinyurl.com/2sk7m2b9; Slowakei: https://tinyurl.com/55eceydv; eingesehen am 15.9.2022

Rudi Friedrich: Flucht vor der Beteiligung am Krieg – Zahlen zu Russland, Belarus und Ukraine. 15. September 2022; aktualisiert am 2. Oktober 2022. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Oktober 2022

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