Rundbrief »KDV im Krieg« - November 2023

Rundbrief »KDV im Krieg« - November 2023

Bericht eines Kriegsdienstverweigerers

Connection e.V. im Interview mit Ercan Genç

von Conection e.V.

Magst Du Dich zunächst vorstellen?

Mein Name ist Ercan Genç. Ich bin Kurde, fünfundzwanzig Jahre alt und wurde in İdil in der Provinz Şırnak im südöstlichen Teil der Türkei geboren. Ich bin Kriegsdienstverweigerer und bin im Juli 2022, kurz vor meiner Einberufung ins Militär, nach Deutschland geflohen.

Warum bist Du Kriegsdienstverweigerer?

Da ich im Südosten der Türkei aufgewachsen bin wo überwiegend Kurden leben, habe ich schon in meiner Kindheit viel Gewalt erlebt. Als ich 13 war, erinnere ich mich, wie das türkische Militär unsere Nachbarstadt bombardiert hat. Dieser Vorfall hat sich mir und vielen anderen als „Roboski Massaker“ eingebrannt. Viele Zivilisten sind ums Leben gekommen. Mein Onkel, der sich vor meiner Geburt dem kurdischen Widerstand angeschlossen hat, sitzt seit 32 Jahren im Gefängnis. Da unsere Häuser zusammenliegen, wurde auch unser Zuhause mehrfach durchsucht. Die Soldaten quälten meinen Vater ständig. Als ich noch ein Kind war, hielt einer ihm eine Waffe an den Kopf. Das hatte mich psychisch stark belastet. An einem anderen Tag zerstörten sie unser Zuhause völlig, als wir nicht da waren. Sie haben uns terrorisiert.

Damals wusste ich noch nicht, was ein Kriegsdienstverweigerer ist. Mein einziger Gedanke war, dass die Menschen nicht sterben und in Frieden leben sollten. Es gibt so viele schöne Dinge auf dieser Welt, warum gibt es für uns den Tod? So verbreitete sich die Idee in meinem Kopf, gegen Waffen und gegen jede andere Art von Gewalt gegen Menschen zu sein.

Als ich älter wurde, 2015, gab es eine Friedensphase zwischen der PKK und der türkischen Regierung. Heißblütig und voll überzeugt vom Frieden habe ich an mehreren Demonstrationen der Pro-kurdischen Regierungspartei HDP teilgenommen. Es wurden Fahnen geschwungen, Slogans gerufen, Transparente mit der Aufschrift „Wir sind Kurden für den Frieden“ getragen und getanzt. Danach nahm ich an Newroz teil, dem kurdischen Neujahr. Diese Veranstaltungen waren friedlich. Aber als 2016 die Friedensphase seitens der türkischen Regierung wieder gekippt wurde, kam die Polizei und hat mich inhaftiert. Sie wollten, dass ich mit ihnen zusammenarbeite und Namen von anderen, teilweise maskierten, Teilnehmern nenne. Als ich mich weigerte, folterten sie mich. Sie haben mich mit Fäusten und Tritten verprügelt und meine Hand, die zu dem Zeitpunkt gebrochen und eingegipst war, erneut gebrochen.

Einige Tage später, nachdem ich entlassen wurde, ging ich zum Arzt, um meine Verletzungen behandeln zu lassen und ein Attest über meine Verletzungen zu bekommen. Doch die Ärzte gaben mir nichts, aus Angst vor Soldaten und Polizisten.

Nach diesen Erfahrungen war mir 2022 bei meiner Einberufung klar, dass ich niemals Teil des Militärs sein und ich es auch nicht anderweitig unterstützen kann. Das türkische Militär führte zu der Zeit einen völkerrechtswidrigen Krieg in Nordsyrien, gegen die Menschen, die die Region vor dem IS befreit haben und gegen die Zivilbevölkerung.

Weil ich das erlebt habe, will ich nicht nur für mich, sondern dass kein Mensch solchen Dingen ausgesetzt wird. Ich glaube, dass vielen Leuten das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung verwehrt wird. Ich möchte eine Stimme für diese Menschen sein. Ich möchte Seite an Seite mit ihnen stehen und unseren Stimmen als Kriegsdienstverweigerer überall auf der Welt Gehör verschaffen!

Was konnte passieren, wenn Du in die Türkei zurückkehren musstest?

Ich habe große Angst davor, in die Türkei zurückzukehren, weil Kriegsdienstverweigerern und pazifistischen Menschen wie mir keinerlei Rechte zustehen. Sie dürfen sich nicht frei bewegen und auch nicht arbeiten.

Sie würden mich am Flughafen direkt abgreifen und mich der Militärbehörde übergeben, als Militärdienstentzieher. Dort würden sie mich zwingen eine Waffe in die Hand zu nehmen und mich ins Kriegsgebiet entsenden. Davor habe ich die größte Angst. Wenn ich mich weigere, würde ich wieder inhaftiert und gefoltert werden.

Haben die Erfahrungen Dich verändert?

Psychologisch kann ich mehrere Dinge bei mir beobachten. Zum einen finde ich, dass meine Erlebnisse/Traumata meinen Charakter ruiniert haben. Früher war ich voller Optimismus und Tatendrang, jetzt prägt mich die Angst und die Unruhe. Ich habe oft Albträume, in denen ich tote Menschen, Kriege und mordende Soldaten sehe. Ich träume von der Vergangenheit und auch von der Zukunft. Ich spüre, dass sich die Welt in Richtung eines dritten Weltkrieges bewegt und das macht mich sehr unglücklich.

Ich merke auch, dass ich mich unwohl gegenüber dem Militär und der Polizei fühle. Das geht mir auch in Deutschland so, wenn ich Soldaten oder Polizisten sehe. Dann ziehe ich mich manchmal zurück – aus Angst, mir würde das gleiche wie in der Türkei passieren. In Deutschland habe ich mich deshalb vier Monate in therapeutische Behandlung begeben.

Auf der anderen Seite haben meine Erlebnisse, meine weiteren Recherchen und Gespräche meine Überzeugung als Antimilitarist verfestigt. Weil ich auf die Stimme meines eigenen Gewissens gehört habe, bin ich fest entschlossen, diesen Weg weiterzugehen. Heute weiß ich, dass ich mich immer wieder so entscheiden würde, trotz den Qualen und Kosten, die damit verbunden sind, wie meine Heimat und meine Familie zurückzulassen.

Möchtest Du noch etwas hinzufügen?

Für die Türkei wünsche ich mir, dass der Krieg schnell beendet wird und dass die Leute lernen friedlich Zusammenzuleben, egal welcher Ethnie oder Religion sie angehören. Natürlich wünsche ich mir das nicht nur für die Türkei, sondern für alle Kriegsgebiete. Für Ukraine, für Russland, für Syrien, für Palästina und Israel, für Eritrea..., sodass kein Mensch auf diese Weise sterben muss.

Von der Welt fordere ich, dass alle zusammen gegen den Krieg stehen und sich gemeinsam für friedliche Lösungen von Konflikten einsetzen. Und dass ALLE Länder das Recht auf Kriegsdienstverweigerung anerkennen!

Connection e.V.: Bericht eines Kriegsdienstverweigerers Interview mit Ercan Genç. 20.02.2024. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Mai 2024.

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