Türkei: Was erwartet Kriegsdienstverweigerer mit dem neuen Strafgesetzbuch?

von Hülya Ücpinar

(26.11.2004) Obwohl das türkische Gesetz Nr. 5237 als eine Reform präsentiert wird, stellt es keine wirkliche Erneuerung da, wenn man die einzelnen Artikel und deren Begründungen genauer analysiert. Der Charakter der Gesetze wurde nicht grundsätzlich verändert.

Die Kriegsdienstverweigerung und Kriegsgegnerschaft wird nicht als Teil der freien Meinungsäußerung angesehen. Artikel 6 schränkt die freie Meinungsäußerung dahingehend ein.

Unser Strafrecht verlangt, dass Richter andere Artikel in Betracht ziehen, die diese Straftaten betreffen, eine Analyse vornehmen und erst danach eine Entscheidung treffen. Aber bei den unten genannten Artikeln ist festzustellen, dass sie keine objektiven Straftatbestände beschreiben - ausgenommen die feststellbare Tatsache, ob eine Meinungsäußerung durch Medien oder Presse veröffentlicht worden ist oder nicht. Somit kann ein Richter nur seine subjektive Sicht zur Grundlage seiner Entscheidung machen. Damit wird die Auffassung des Richters in diesen Prozessen zum maßgeblichen Faktor.

Im neuen Strafgesetzbuch wird die Auslegungsfreiheit der Richter durch verschiedene Artikel begrenzt. Es werden damit insbesondere Kriterien des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes zu "Bedingungen demokratischer Gesellschaften" berücksichtigt. Rechte und Freiheiten werden so lange gewährt, wie sich das als eine Bedingung einer "demokratischen Gesellschaft" darstellt. Da aber in unserem Land die Tradition eines demokratischen Verständnisses zu Rechten und Freiheiten unterentwickelt ist, erscheinen die neuen Regelungen in einem besonderen Licht. Wie weit werden angesichts dessen Gerichte und Staatsanwaltschaft dem Verständnis einer "demokratischen Gesellschaft" überhaupt folgen und objektiv handeln? Die bisherigen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte gegen die Türkei in Fragen der Meinungsäußerung zeigen auf, wie unsere Richter und Staatsanwälte solche Fälle bislang beurteilt haben.

Aus diesen Gründen werden die neuen Artikel keine inhaltliche Änderung herbeiführen. Insbesondere der Art. 305, "Verstoß gegen die grundsätzlichen nationalen Interessen", lässt großen Interpretationsspielraum. Wenn dieser Artikel durch die subjektive Sicht und Begründungen der Richter beurteilt wird, sind die Aussichten erschreckend.

Mit den folgenden Artikeln und Absätzen können Aktivitäten von Kriegsdienstverweigerern nach dem neuen türkischen Strafgesetzbuch verfolgt werden:

Art. 214 Aufhetzen zu einer Straftat

(1) Die öffentliche Aufhetzung zu einer Straftat kann mit sechs Monaten bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden.
(3) Wenn eine Tat durch Aufhetzung begangen wird, wird die Person als Täter angesehen, die aufgehetzt hat.

Der alte Art. 311 ist hier unverändert übernommen worden. So wie der Gesetzestext formuliert ist, stellt dies in der Tat eine Gefahr dar, da es keine Rolle spielt, ob die Straftat, zu der aufgerufen worden ist, auch begangen wurde. Maßgeblich ist allein, dass eine unbekannte Person zu einer Straftat aufgehetzt wurde.

Art. 217 Aufhetzung zu Widerhandlungen gegen Gesetze

(1) Wer öffentlich das Volk zu Widerhandlungen gegen Gesetze aufhetzt und damit die öffentliche Friedensordnung stört, kann mit einer Haftstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren oder zu einer Geldstrafe verurteilt werden.

Dieser Artikel entspricht dem alten Art. 312 Absatz 1. In der alten Fassung war "Aufhetzen" als unklar definierter Begriff gewählt worden. In der neuen Fassung wird der Begriff durch die Verbindung mit "Störung der öffentlichen Friedensordnung" konkretisiert. Aber in der neuen Fassung wurde nicht korrigiert, dass eine Äußerung erst dann bestraft werden sollte, wenn die Straftat auch begangen worden ist. Es bleibt also dabei, dass allein die "Aufhetzung" eine Straftat darstellen kann.

Artikel 214 und 217 definieren den Begriff "Aufhetzungshandlung". Der Unterschied der Artikel ist, dass sich Art. 214 laut Strafgesetzbuch auf Straftaten bezieht, Art. 217 auf Widerhandlungen im Allgemeinen. Somit kann Ziviler Ungehorsam als "Störung der öffentlichen Friedensordnung" nach Art. 217 verfolgt werden.

Die in beiden Artikeln genannten Strafzumessungen werden laut Art. 218 um die Hälfte erhöht, wenn die Straftat durch die Medien oder Presse öffentlich wird.

Beide Artikel werden insbesondere bei der öffentlichen Kriegsdienstverweigerung zur Anwendung kommen, vor allem bei einer Aufforderung zur Kriegsdienstverweigerung. Bis jetzt konnte der alte Art. 311 (neu: Art. 214) nicht auf Meinungsäußerungen von Kriegsdienstverweigerern und KriegsgegnerInnen angewandt werden. Das ist nach dem neuen Strafgesetzbuch anders.

Der alte Artikel 312 (neu: Art. 217) wurde in der Türkei in der Regel gegen oppositionelle Gruppen angewendet. Er war von Inhalt und Eigenschaft schon bislang auf Kriegsdienstverweigerer und Kriegsgegner bei Fällen von Verweigerung und Aufforderung sowie Ungehorsam anwendbar. Gegen Kriegsdienstverweigerer und KriegsgegnerInnen wurde jedoch oft mit den Art. 155 und 159 vorgegangen.

Art. 301 Beleidigung der Türken, der Republik und öffentlicher Institutionen

(2) Wer öffentlich die Regierung der türkischen Republik, die Gerichtsbarkeit, die Institutionen des Militärs und der Polizei beleidigt, kann zu einer Haftstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren verurteilt werden.
(4) Meinungsäußerungen, die eine Kritik darstellen, stellen keine Straftat dar.

Mit dem Art. 301 ist der alte Art. 159 mit dem ziemlich gleichen Inhalt wieder aufgenommen worden. Es ist ein niedrigeres Strafmaß als bisher möglich, nach oben hin ist es gleich geblieben. Der Artikel wird - wie bislang auch - hauptsächlich Kriegsdienstverweigerer betreffen. Er definiert die "Beleidigung" materiell. Die Beleidigung muss also in der Öffentlichkeit erfolgt sein. In der Begründung des Artikels ist ausgeführt, dass dies eine "Straftat ist, mit deren Ausführung das Ansehen von Werten und der Respekt vor ihnen herabgesetzt wird".

Art. 305 Verstoß gegen die grundsätzlichen nationalen Interessen

(1) Ein Verstoß gegen die grundsätzlichen nationalen Interessen stellt eine Straftat dar. Wer durch fremde Personen oder Institutionen finanzielle Vorteile erhält oder für sich oder andere finanzielle Vorteile erringt, wird mit einer Haftstrafe von drei Jahren bis zu zehn Jahren Haft und Zehntausend Tagessätzen Geldstrafe bestraft. Die gleiche Strafe erhalten die Personen, die solche Versprechungen in Aussicht stellen.
(2) Falls diese Straftat während eines Krieges begangen wird oder für Propagandazwecke durch Medien und Presse verbreitet wird und für die solche Versprechungen in Aussicht gestellt werden, wird die Strafzumessung um die Hälfte erhöht.
(3) Erfolgt die Straftat außerhalb der Kriegszeit, obliegt es dem Justizministerium, ob Strafanzeige gestellt wird.
(4) Unter dem Begriff "grundsätzliche nationale Interessen" werden die Freiheit, die Unteilbarkeit (des Landes, Anm. d. Ü.), die nationale Sicherheit sowie die Grundsätze der Verfassung verstanden.

Dieser Artikel ist neu. Gefährlich ist, dass die darin genannten Begriffe nicht klar definiert sind und es keinerlei Erfahrungen mit der Auslegung dieser Begriffe gibt. Der Artikel besteht aus vier Absätzen, mit denen eine Definition erfolgt. Aber jeder Begriff kann viel umfassen, jede beliebige Tat kann mit diesen Inhalten verbunden werden; ob eine Straftat vorliegt, wird also durch die subjektive und konjunkturelle Wahrnehmung der Gerichte und Staatsanwaltschaften entschieden werden. Es wird fast unmöglich sein, dass Richter und Staatsanwälte ihre persönliche Meinung von der juristischen Auslegung trennen können.

In der Begründung zu diesem Artikel wird ausgeführt: "Der Artikel verfolgt den Zweck, dass grundsätzlich nationale Interessen geschützt und die Personen bestraft werden, die sich durch einen Verstoß Vorteile verschaffen." Es sei bekannt, dass der Begriff "grundsätzliche nationale Interessen" einen sehr großen Spielraum offen lässt. Zur Klarstellung sei der letzte Absatz aufgenommen worden.

Der im Absatz 1 benannte geldmäßige Eigenvorteil fällt dann unter diesen Artikel, wenn er durch einen Verstoß gegen die grundsätzlichen nationalen Interessen erreicht wurde oder dies beabsichtigt war. Ist der geldmäßige Vorteil umgesetzt worden, gilt die Straftat als begangen. Es ist aber nach dem Gesetzestext nicht zwingend notwendig, dass gegen die grundsätzlichen nationalen Interessen verstoßen worden ist, um den Straftatbestand erfüllt zu haben.

Der Artikel unterstellt dem Täter andere Gründe. Beim Verstoß gegen die grundsätzlichen nationalen Interessen seien finanzielle (fremdgesteuerte Anm. d. Ü.) Aktivitäten ausschlaggebend.

Mit dem zweiten Absatz wird eine erhöhte Bestrafung aufgrund einer besonderen Eigenschaft des Verstoßes begründet. Im Falle eines Krieges ist sehr klar, wie die "grundsätzlichen nationalen Interessen" zu bestimmen sind. Jede Behinderung der Kriegsführung und eines Sieges wird darunter fallen. Zudem wird die Strafzumessung erhöht, wenn finanzielle Vorteile in Anspruch genommen werden, um durch Medien oder Presseorgane Propaganda zu verbreiten oder Eigenvorteile zu erreichen bzw. wenn entsprechende Versprechungen erfolgten. Unter diesen Absatz können somit zum Beispiel Äußerungen fallen, die den Rückzug der türkischen Streitkräfte aus Zypern fordern oder für eine Lösung des Konflikts werben, die in Widerspruch zu den türkischen Interessen stehen, für solche Äußerungen Gelder fließen oder Eigenvorteile erworben werden oder nachweisbar entsprechende Versprechungen gemacht worden sind. Ein anderes Beispiel dafür wären Äußerungen zum Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg, die den Interessen der Türkei schadeten. All solche Äußerungen, durch Medien oder Presse öffentlich gemacht, werden hiermit unter Strafandrohung gestellt.

Mit dem dritten Absatz wird die Definition der "grundsätzlichen nationalen Interessen" in Friedenszeiten dem Justizministerium überlassen.

Mit Absatz 4 wird definiert, was unter "grundsätzlichen nationalen Interessen" zu verstehen ist. Dieser Absatz wurde nach den Richtlinien für das französische Strafrecht in das türkische Strafgesetzbuch aufgenommen. Das französische Recht beschreibt aber genauer, was unter nationalen Interessen zu verstehen ist.

Art. 318 Distanzierung des Volkes vom Militär

(1) Aktivitäten, Aufforderungen und Empfehlungen, die das Volk vom Militärdienst distanzieren oder entsprechende Propaganda werden mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Haftstrafe bestraft.
(2) Falls diese Straftat durch Medien oder Presse begangen wurde, wird die Strafzumessung um die Hälfte erhöht.

Der alte Art. 155 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) wurde in einer neuen Fassung in den Art. 318 übergenommen. Im Unterschied zur alten Fassung wird eine höhere Gewichtigkeit der "Distanzierung des Volkes vom Militär" für die Erfüllung der Straftat vorausgesetzt. Bei genauerer Betrachtung ist die angebliche Verbesserung des Artikels allerdings mit großen Zweifeln behaftet.

Diese erwachsen aus der Begründung des Artikels: "Um das Vaterland gegen feindliche Kräfte zu verteidigen, muss jeder/jede türkische Staatsbürger/in von großer Leidenschaft und dem Wunsch zur Ableistung seines/ihres Dienstes erfüllt sein. Das liegt darin begründet, dass die Staatsbürgerschaft des Vaterlandes bedingt, dies als Teil der inneren Verpflichtung anzusehen. Jede Distanzierung der Bürger vom Militärdienst mittels Aufwiegelung, Empfehlung oder über Propaganda, um das Nationalgefühl zu schwächen, wird als Straftat angesehen, um somit die nationale Verteidigungsbereitschaft zu gewährleisten."

Art. 319 Aufwiegelung zum Ungehorsam

(1) Jede Person, die Soldaten oder Bedienstete des Militärs und andere Personen zum Ungehorsam aufwiegelt, oder dazu, ihren Eid zu brechen, die militärische Disziplin oder den militärischen Dienst zu missachten, oder die vor Soldaten Handlungen äußert, die zum Bruch gesetzlicher Verpflichtungen, zum Brechen des Eides oder zum Bruch von Verpflichtungen eines Bediensteten führt und die solche aufständischen Handlungen verherrlicht oder die äußert, solche Handlungen seien gut, wird mit ein bis zu drei Jahren Haft bestraft.
(2) Wird diese Straftat in der Öffentlichkeit begangen, wird eine Haftstrafe von zwei bis zu fünf Jahren Haft verhängt.
(3) Wird diese Straftat während eines Krieges begangen, wird die Strafzumessung auf das doppelte Strafmaß erhöht.

Die Inhalte des alten Art. 153 wurden damit übernommen. In der Begründung ist ausgeführt: "Die Streitkräfte sind per Gesetz zur Verteidigung des Vaterlandes verpflichtet. Um dieser Pflicht nachkommen zu können, erwarten die Streitkräfte von den Bediensteten, sich den Gesetzen zu unterwerfen, den Eid einzuhalten und eine strenge militärische Disziplin zu befolgen. Der Artikel wurde aufgenommen, um die nationalen Interessen zu wahren."

Der Täter kann sowohl ein Soldat, als auch eine zivile Person sein. Eine Straftat läge dann vor, wenn die nationale Sicherheit oder die öffentlichen Interessen beeinträchtigt seien.

Der Artikel beschreibt zwei Straftaten. Zum einen wird die Aufforderung zum Ungehorsam von Soldaten oder zivilen Bediensteten des Militärs, zum Verstoß der gesetzlichen Verpflichtungen, zum Bruch des Eides, der Missachtung der militärischen Disziplin oder sogar zum Missbrauch des militärischen Amtes unter Strafe gestellt. Zum anderen wird unter Strafe gestellt, wenn diese Handlungen verherrlicht werden oder gegenüber den Soldaten das Einverständnis dazu erteilt wird.

Beide Straftatsbestimmungen führen zu einem hohen potentiellen Risiko der Strafverfolgung, da die Straftat durch einfache Aufwiegelung oder Verherrlichung als erfüllt angesehen wird wie auch dadurch, dass Einverständnis erteilt wird. Wie bei jeder potentiellen Schuld, müssten durch die Kommentierung des Artikels eigentlich objektive Bedingungen vorgegeben werden. Darüber hinaus ist es für eine Strafverfolgung noch nicht einmal erforderlich, dass der Ungehorsam tatsächlich erfolgt ist.

In den Absätzen 2 und 3 werden Voraussetzungen für eine höhere Strafzumessung benannt. Wie aus dem Absatz 2 zu ersehen ist, ist die Straftat erfüllt, wenn nur eine einzige Person aufgewiegelt wird.


Hülya Ücpinar: Savas Karsitlarini Yeni TCK’da Neler Bekliyor? 26.11.2004. Übersetzung: Cemal Sinci. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Januar 2005

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